Das Herz der 6. Armee
und freuen uns auf die Zeit, wo wir wieder eigennützig denken können …«
Major Kubowski ließ seine Zigarette fallen. »Genossin«, sagte er beschämt. »So viel Patriotismus …«
»Nennen Sie es Selbstbetrug.« Die Ärztin erhob sich. Schön sah sie aus. Kubowski nagte an der Unterlippe und rieb die Stiefelabsätze aneinander. »Sie müssen wieder weg, Major …«
Es klang ganz beiläufig, aber in ihrer Stimme war ein Unterton, der nicht zu den Worten gehörte, Kubowski sah zu ihr empor. »Weg? Wieso?«
»Der Genosse Divisionskommandant hat Sie angefordert.«
»Seit wann wissen Sie das?«
»Seit zwei Tagen.«
»Und sagen es mir jetzt erst?«
Olga Pannarewskaja nickte und wandte Kubowski den Rücken zu. Ihr Blick überflog die deutschen Häusergruppen. Vier zerfetzte Panzer bildeten die Grenze. Um diese Panzertrümmer hatten schon wilde Kämpfe stattgefunden, obgleich sie sinnlos waren und es keinerlei Nutzen brachte, die Panzer erobert zu haben.
»Ich habe Sie bis morgen noch krank melden können, Major.«
»Olga.«
Kubowski sprang auf. Er riß die Ärztin an der Schulter herum, und er tat es so heftig, daß sie gegen ihn fiel und sich an ihn klammern mußte, um nicht hinzufallen. Kubowski drückte sie an sich, und als er ihr Gesicht sah, war er glücklich und hätte jubeln können.
»Sie sind traurig, Olgaschka«, sagte er leise.
»Ja, Jewgenij Alexandrowitsch.«
»Es ist Ihnen nicht gleichgültig, ob mich die Deutschen erschießen oder ob ich den Krieg überlebe …«
»Nein, durchaus nicht«, sagte sie tief aufatmend.
Da vergaß Major Kubowski, daß er in der zuschneienden Trümmerwüste einer gestorbenen Stadt stand, daß es morgen wieder ein Sterben gab und daß der Kampf an der Wolga mehr war als nur eine Schlacht, sondern die Entscheidung über das Leben Rußlands.
Er küßte Olga Pannarewskaja, und diesmal war es weder dunkel noch hämmerten die deutschen Granaten auf das Kellerdach, noch gab es überhaupt einen Anlaß, außer dem, daß man verliebt war wie noch nie in seinem Leben.
Fünfzig Meter weiter kroch der Gefreite Knösel durch die verschneiten Trümmer und suchte eine paar dicke Balken, die ausreichten, den Bunker für eine Woche zu wärmen. In der Nacht sollte ein Stoßtrupp dann die Balken abtransportieren, wenn nötig unter Feuerschutz. Es ging im Augenblick darum, daß man nicht fror, und nicht, daß man wieder zwei Keller eroberte oder eine Straßenseite.
»Ja, ist denn das möglich«, sagte Knösel entgeistert, als er um eine Hausecke kroch und mitten in den Trümmern einen Russen stehen sah, der eine Russin küßte. Sie taten es so gründlich, daß ihre sich umarmenden Gestalten aussahen wie ein weißes Denkmal.
Knösel duckte sich hinter einen Mauerrest und überlegte, was zu tun sei. Nun streichelt er sie auch noch, herrjemine, dachte er. Ihr Haar, ihr Gesicht, ihre Schulter … wenn das so weitergeht, wird's ein Pariser Film mit Ringelpietz und Anfassen … Und das mitten in Stalingrad. Im Schnee. Muß ein verdammter Notstand bei ihnen sein …
Jäh wurde das Idyll gestört. Seitlich von Knösel hämmerte eine Maschinenpistole los. Die Geschosse schlugen vor den Küssenden in das Gestein, und so als seien sie getroffen, stürzten beide umschlungen in den Schnee und rollten in Deckung.
»Idioten!« schrie Knösel. »Wem geht denn die Knutscherei so auf die Nerven …«
Durch die Trümmer sprangen ein paar dunkle Gestalten. Auch Knösel robbte davon und stieß auf einen jungen Leutnant, der schwer atmend hinter einem Hauseingang saß. Auf der russischen Seite bellten ein paar Granatwerfer auf und setzten einen Riegel vor die vier zerfetzten Panzer. Die Explosionen waren dumpf, der Schnee schluckte die hellen Laute.
»So eine Saubande«, keuchte der junge Leutnant. »Tun so, als sei nichts los und küssen sich. Na, denen salzen wir ein … denen vergeht noch diese bolschewistische Frechheit.« Er bemerkte erst jetzt, daß Knösel nicht zu seinem Spähtrupp gehörte und wechselte das Magazin seiner Maschinenpistole. »Wer sind denn Sie?«
»Gefreiter Schmidtke auf der Suche nach Brennholz.« Knösel setzte sich neben den jungen Leutnant. »War so ein schönes Bild, Herr Leutnant.«
»Was?« Der junge Offizier ließ das Magazin einrasten. »Sie haben die Knutscherei gesehen?«
»Ja.«
»Mann. Sie sind doch bewaffnet. Warum haben Sie nicht geschossen? Wie heißen Sie?«
»Gefreiter Hans Schmidtke.«
»Einheit?«
»Transportbataillon 234, zugeteilt zu
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