Das Herz der 6. Armee
blechernes Trompetensignal. Es war eine symbolische Handlung, fast eine theatralische Geste, denn mit diesem Trompetensignal wurde der Untergang einer Armee eingeblasen.
Achthundert Geschütze begannen nach diesem Signal zu feuern. Auf einer Breite von nur drei Kilometern wälzte sich eine Feuerwand über die deutschen und rumänischen Stellungen, zerbarsten die Bunker und Unterstände, wurden die Erdhöhlen verschüttet, wirbelten Körper und Lastwagen, Geschütze und Balken, Werkstätten und Ersatzlager, Munition und Menschen durch die eisige, flammendurchzuckte Luft.
Die rumänischen Divisionen wurden unter die Erde gepflügt, ehe sie begriffen, was überhaupt über sie gekommen war. Sie lagen plötzlich in einer Hölle, die aus einem eisigen, nebelverhangenen Himmel über sie hereinbrach. Es war, als bräche die Erde auf drei Kilometer Breite auf und verschlinge alles, was sich bisher auf ihr bewegt hatte.
Vier Stunden lang trommelten die achthundert sowjetischen Geschütze auf die deutschen Divisionen. Um acht Uhr früh setzte dann der Sturm ein … Panzerwelle auf Panzerwelle rasselte heran und walzte alles in den aufgerissenen Boden, was sich ihr entgegenstellte. Auf den stählernen Kolossen saßen die sowjetischen Infanteristen, dunkle Trauben, um die feuernden Türme klebend wie Wespennester.
Drei Panzerkorps und drei Kavalleriekorps der sowjetischen Heeresgruppe ›Don‹ rollten über die aufgerissene deutsche Stellung und drückten die Flanke der Stalingradfront ein. Während in den Trümmern der Stadt die deutschen Regimenter in den Kellern saßen und Haus um Haus eroberten oder wieder verloren, vollzog sich in ihrem Rücken die Tragödie eines vollkommenen Zusammenbruchs, der auch sie mitschluckte wie ein unersättlicher Moloch … die sowjetische Großoffensive zur Befreiung Stalingrads hatte begonnen. Die Reserven, die man so lange zurückgehalten hatte und die man in der Stadt immer wieder angefordert hatte, rollten nun unaufhaltsam in den Rücken der deutschen Truppen.
Das Drama der 6. Armee begann. Noch ahnte es niemand. Noch überblickte keiner die Lage, denn das Durcheinander war nach diesem massiven, plötzlichen Feuerüberfall verheerend. Erst am Abend des 19. November sah man klarer. Es bot sich ein trostloses Bild: Eine breit aufgerissene Front, russische Panzerspitzen mitten im Hinterland Stalingrads, flüchtende Kompanien und Regimenter, überrollte Stäbe und Magazine. Der Donbogen war eingedrückt, ein sowjetisches Panzerkorps war auf dem Anmarsch auf Kalatsch … es war ein Sterben in Ratlosigkeit und völliger Überraschung.
In seinem Erdloch am Steilhang der Wolga saßen der Greis Abranow, seine Enkelin Vera Kaljonina, wie sie jetzt hieß, und einige andere Zivilisten aus Stalingrad um einen kleinen Radioapparat und hörten die stündlichen Meldungen von der großen Offensivfront. Abranow weinte. Die Tränen rannten dem Alten nur so aus den müden Augen und liefen die Runzeln herunter bis zum Kinn, wo sie in einer Mulde einen kleinen See bildeten. Aber er schämte sich nicht, in seinem Alter noch so zu heulen, o nein, er saß da, hocherhobenen Hauptes, die Hände auf die Knie gelegt, hörte die Meldungen und weinte dabei wie ein Kind.
»Mütterchen Rußland lebt«, sagte er immer wieder. »Mütterchen Rußland lebt … Bald werden wir frei sein … frei … oh.«
Vera Kaljonina saß da mit gesenktem Kopf und sagte nichts. Sie dachte an Iwan Iwanowitsch, der noch immer im ›Tennisschläger‹ hockte, zusammen mit einer Gruppe Soldaten, und den Befehl hatte, sein Haus und seinen Keller zu verteidigen, solange er noch einen Finger rühren konnte. Sie hatte in den letzten Tagen nichts mehr von ihm gehört; sie wußte nicht, ob er noch lebte, und alle Erfolge, die aus dem Radio tönten und den alten Abranow zum Weinen brachten, waren ihr nicht so wichtig wie die Erfüllung ihrer heimlichen Gebete: Laß ihn zurückkommen. Laß ihn Stalingrad überleben …
Abranow stieß seine Enkelin in die Seite, so wie man einen stehengebliebenen Esel wieder antreibt. »Was ist, Töchterchen?« schrie er vor patriotischer Begeisterung. »Du freust dich gar nicht? Tanzen solltest du. Habe ich es nicht immer gesagt: Wartet erst den Schnee ab und den Eiswind … und wenn die Wolga zugefroren ist …« Es war ein altes Lied, das der Greis sang, und jeder am Wolgasteilhang kannte es. Nur sangen sie es anders – sie fluchten dabei. Auf der Wolga begann das Treibeis, und es war abzusehen, wann der
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