Das Herz der 6. Armee
wenn es sich zeigt, daß Sie wirklich ein Gegner Hitlers und des Krieges sind, wird man Sie vielleicht sogar nach Moskau bringen, auf die Antifaschule, unter die Obhut der deutschen Genossen Ulbricht und Weinert. Wissen Sie, daß Ulbricht und Weinert an der Stalingrad-Front sind und täglich zu Ihren Kameraden sprechen?«
»Nein«, stammelte Wallritz. Er begriff das alles nicht. Er hörte Worte, ohne sie zu verstehen. Er erkannte nur eins: Er sollte weiterleben. Er wurde nicht erschossen, nicht gefoltert, nicht stückweise zerrissen. Er durfte leben!
Leutnant Perwuchin steckte sich eine neue Zigarette an. »Allerdings müssen Sie uns erst beweisen, daß Sie ein Gegner Ihres Regimes sind«, sagte er dabei. »Wir werden Sie genau beobachten und etwas von Ihnen verlangen.«
»Was … was soll ich tun?« stammelte Wallritz.
Leben, dachte er dabei. Leben. Ich werde Mutter wiedersehen.
»Wir wissen aus aufgefangenen Funksprüchen, daß morgen nacht von Morosowski ein großer Nachschubtransport zum 48. Panzerkorps nach Nishne Tschirskaja unterwegs ist und durch unser Gebiet rollt.« Perwuchin schnippte die Asche von seiner Zigarette. »Sie werden an der Weggabelung stehen und die Kolonne statt nach Tschirskaja zu uns in den Wald leiten …«
Wallritz nickte. Ich werde leben, dachte er.
»Sie bekommen dazu die Uniform eines Oberfeldwebels der Feldgendarmerie.« Perwuchin grinste freundlich. »Wir haben alle Uniformen, die wir brauchen.« Wallritz zog die Schultern hoch. Er begriff, was hinter diesen Worten stand. »Wenn dieses Unternehmen glückt, werden wir Sie weiterreichen zur Armee. Sie werden nach dem Kriege Ihre Heimat wiedersehen …«
»Ich werde alles tun … alles«, stotterte Wallritz. Perwuchin nickte. Juri Stepanowitsch, der Bärtige, drehte Wallritz an der Schulter herum und führte ihn hinaus.
»Ein Glück hast du, Freundchen«, sagte er auf russisch. »Als wenn ich es geahnt hätte, als ich dich sah …«
Am Abend wurde Wallritz eingekleidet. Die Uniform war etwas zu weit, aber wer achtet schon darauf. Das Wichtigste war das blankgeputzte Brustschild der Feldgendarmerie, das Abzeichen, das selbst Generäle respektierten, weil hinter ihm die Macht einer gnadenlosen Gerichtsbarkeit stand.
Um Mitternacht stand er neben einem Motorrad an der Straßengabelung und wartete auf die deutsche Nachschubkolonne. Hinter ihm, im Dickicht des Waldes, lagen in tiefer Staffelung 2.000 Partisanen mit Maschinengewehren, Granatwerfern, Flammenwerfern und kleinen, wendigen Panzerkanonen. Sie säumten eine Straße, die im Nichts, im dichten Wald endete. Eine Riesenfalle, aus der es kein Entrinnen gab.
Sigbart Wallritz fror. Er stampfte durch den Schnee hin und her, lauschte in die Ferne nach Motorengeräusch und setzte sich dann wieder auf den Sattel seines Motorrades, um auf den Nachschubtransport zu warten.
Jetzt hatte er Zeit, über alles nachzudenken, und er dachte mit sich zusammenkrampfendem Herzen: Gleich werden sie kommen. Wagen an Wagen. Mit Munition, mit Verpflegung, mit Lazarettbedarf, mit Feldpost, mit Wäsche, Uniformen, warmen Mänteln, Handschuhen, Filzstiefeln. Wagen an Wagen, auf die einige tausend deutsche Soldaten draußen in der Steppe warten. Bei dreißig Grad Kälte, im Freien liegend, an die Panzer und Fahrzeuge gedrückt, verwundet, mit durchgebluteten Verbänden, hungernd und bis zum Umfallen erschöpft. Und hier stehe ich, an einer Weggabelung, und werde diese Wagen umleiten in die Vernichtung. Und sie alle werden sterben … die Fahrer und Begleiter, die Offiziere und Sonderführer, die Melder und Funker, die Ersatztruppen und die Neulinge an der Front. Und sie alle haben eine Mutter, einen Vater, eine Frau, eine Braut, Kinder … ein einziger Mann wird sie zu Witwen und Waisen machen … der ehemalige Freiwillige Sigbart Wallritz, der hier an der Kreuzung steht und sagen wird: »Die Straße ist gesperrt. Umleitung über diesen Weg …«
Ein Weg in das Namenlose, denn niemand wird von dieser Kolonne etwas sehen noch wiederfinden. Es wird eine Truppe sein, die einfach verschwand. Aufgesaugt vom unersättlichen Schwamm des Krieges.
Von weitem hörte er jetzt das Knattern von Motoren. Sigbart Wallritz sah sich um. Er schien allein, aber er wußte, daß 2.000 Sowjets hinter ihm lagen, zehn Meter von ihm entfernt die erste Truppe, mit Major Babkow an der Spitze, zweihundert Scharfschützen, die den Riegel vor die Falle legen sollten.
Zwei Kradmelder und ein Kübelwagen krochen durch die Nacht
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