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Das Herz der 6. Armee

Das Herz der 6. Armee

Titel: Das Herz der 6. Armee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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befanden sich vierhundertzwanzig Meter von seinem ›Eisschrank‹ entfernt. Das hört sich viel an, aber für Knösel bedeutete es, in unmittelbarer Nähe von Sattwerden zu leben.
    Einige Kommandeure der umliegenden Truppen besuchten Stabsarzt Dr. Portner. Sie brachten Schnaps mit und die Bitte, den Sanitätern der Truppe Verbandmaterial und schmerzstillende Tabletten oder Spritzen zu geben. Dr. Portner mußte sie alle vertrösten. »Wenn in zwei Wochen nicht durch die Luftversorgung Ersatz abgeworfen wird, weiß ich selbst nicht mehr, womit ich die Verwundeten versorgen soll«, sagte er. »Geben Sie das per Funk an die Division durch.« Die Kommandeure verabschiedeten sich höflich und gingen. »Er ist ein genauso armes Schwein wie wir«, sagten sie draußen auf dem kreisrunden Platz, ehe sie sich trennten. »Ich möchte wissen, wie die Armee sich das denkt. So kann es doch nicht weitergehen.«
    Aber es ging weiter. Obwohl im Norden die 8. italienische Armee vernichtend geschlagen wurde und panikartig zurückflüchtete, und im Süden der Entlastungsversuch der Armeegruppen Hollidt und Hoth im Feuer sowjetischer Panzer- und Garde-Armeen steckenblieb und zurückgedrängt wurde, obwohl Tag für Tag und Nacht für Nacht ein Vorhang aus brüllender Glut über der Stadt Stalingrad hing und durch die deutsche Luftflotte statt der nötigen fünfhundert Tonnen Versorgung täglich nur hundert Tonnen in den Kessel gelangten und an manchen Tagen überhaupt nichts, brachte der Großdeutsche Rundfunk markige Worte Görings und Goebbels' und wurden vorweihnachtliche Konzerte gesendet, die in den Kellern und Bunkern von Stalingrad, in den Steppendörfern des Kessels und den Sterbehöhlen von Pitomnik und Gumrak mit sprachloser Verwunderung empfangen wurden.
    Man rüstete sich für Weihnachten. Für das Fest der Liebe und des Friedens, in einer Welt, die Tag für Tag das sinnlose Sterben Hunderter sah und für die der Begriff des Gottes der Liebe immer unverständlicher wurde.
    Die Lebensmittelversorgung der eingeschlossenen Truppen brach in den Tagen vor Weihnachten zusammen. Die Brotration wurde auf hundert Gramm festgesetzt, aber auch dies stand nur auf dem Papier, denn es gab Tausende, die ihren letzten Brotkanten schon vor Tagen gegessen und von da ab von Brot nichts mehr gesehen hatten. Es kam die Zeit, in der man Puddingsuppen aus Fußpuder kochte und einen nach Leim schmeckenden Brei aus Sägespänen, Stroh und Steppengras.
    In den Kellern unter dem Kino lagen jetzt weniger Verwundete und mehr Fleckfieberkranke, Verhungerte und Erschöpfte. Es war unmöglich, die wertvollen Plätze in den Kellern von ihnen freizuhalten. Sie kamen in Gruppen, überrannten die Sanitäter, drängten in die Tiefe, wo ihnen Wärme entgegenschlug. Ruhe, das Gefühl von Geborgenheit, Wasser, Essen, und sie warfen sich hin, blieben liegen, versperrten Gänge und Treppen mit ihren Leibern und starben lautlos oder unter wimmerndem Schreien.
    Stabsarzt Dr. Portner wurde in diesen Tagen vor ein medizinisches Rätsel gestellt. Vor ihm starben Männer ohne den geringsten Anlaß. Tote wurden ihm gebracht, die im MG-Loch einfach umgesunken waren, die beim Graben umkippten, die im Bunker beim Kartenspiel vom Sitzbrett fielen oder beim Schreiben eines Briefes zusammensanken. Es war ein lautloser Tod, ein Sterben in Samtschuhen.
    Von verschiedenen Truppenteilen wurden sie ihm in den Kinokeller gebracht; weil ihr Tod so merkwürdig war, warf man sie nicht einfach in ein Granatloch und schüttete es zu, sondern nahm die Mühsal auf sich, sie durch die Kampflinie zum Lazarett zu tragen.
    »Verstehen Sie das, Körner?« fragte Dr. Portner. Auf dem Operationstisch – einem mit Wachstuch überzogenen Küchentisch – lag die nackte Gestalt eines dieser Toten. Ein knochiger Körper, ein junges, aber im Schrecken der Schlacht vergreistes Gesicht. Auch dieser Mann war einfach umgefallen und gestorben. Er sah nicht verhungert aus, er zeigte keine Anzeichen von Vergiftung, er war – wie die Männer, die ihn brachten, berichteten – nicht so erschöpft gewesen, daß er an Herzschwäche sterben konnte. Er hatte sogar gelacht, hatte einen Witz gemacht, sich gegen den Grabenrand gelehnt und war plötzlich tot.
    »Wir müssen das dem Korps melden«, sagte Dr. Portner. »Vielleicht haben andere Kollegen die gleichen Beobachtungen gemacht.«
    Dr. Körner gab die Meldung durch das Feldtelefon nach Pitomnik weiter. Von dort antwortete ihm ein Oberstarzt. Professor Abendroth

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