Das Herz der 6. Armee
war ausgeflogen worden. Er rang im Hauptquartier der Heeresgruppe um Medikamente und Verbandmaterial und erfuhr dort zu seinem sprachlosen Erstaunen, daß davon mehr als genug im Kessel sei. Man legte ihm Listen vor, die genau Aufschluß gaben. Nach diesen Transportunterlagen hatte die 6. Armee eine reichliche Sanitätsausrüstung.
»Aber an der Front ist nichts! Absolut nichts!« schrie Professor Abendroth hochrot vor Erregung. Man hob die Schultern, sah ihn hilflos an und schwieg.
Der Oberstarzt notierte sich die Meldung des Feldlazaretts III in Stalingrad. »Sehr interessant«, sagte er. »Bitte reichen Sie einen genauen schriftlichen Bericht ein. Mir liegen ähnliche Beobachtungen von verschiedenen Stellen vor. Ich werde es weiterleiten zum Oberbefehlshaber. Irgend etwas stimmt da nicht … da haben Sie recht. Ich danke Ihnen. Ende.«
Um den 21. Dezember herum vergaß man die merkwürdigen Toten. Die Sowjets trommelten in die Trümmer, von allen Fronten des Einschließungsringes meldete man starke Aktivität. Russische Panzerverbände rollten die Linien auf … es war kein Kunststück mehr … in den Schneelöchern und Erdbunkern hockten die ausgemergelten deutschen Landser, schutzlos bei 35 Grad Kälte, nur gewärmt von heißem Schneewasser, in dem sie als ›Mittagessen‹ ein paar Erbsen quellen ließen. Pro Kopf zwölf Erbsen.
Am 21. Dezember bekam der Kinokeller erneuten Besuch. Unter krachendem Artilleriefeuer stolperte ein Mann die Treppe herunter, wurde von dem Luftdruck einer neben dem Eingang krepierenden Granate gegen die Wand geschleudert und fiel die letzten Stufen hinunter in die Arme eines Sanitäters. Vor seiner Brust hing an einer dünnen Kette ein kleines goldenes Kreuz.
»Wo kommen Sie denn her, Herr Pfarrer?« stotterte der Sanitäter. Er richtete den katholischen Pfarrer Paul Webern auf und klopfte ihm den Schmutz von der Uniform. »Haben Sie was abbekommen?«
»Solange ich kriechen kann, geht es!« Paul Webern umklammerte das kleine Kreuz. Aus den Kellern vor sich hörte er das bekannte Stöhnen und Wimmern, das Fluchen und Weinen, den Ruf »Gebt mir doch eine Pistole. Eine Pistole, Jungs … ich kann nicht mehr. Ich kann nicht mehr!« Er roch das Blut und den Eiter, den Kot und die schwärenden Wunden, und er wußte, daß es auch hier so war wie überall in den Hunderten von Kellern, in denen er herumgekrochen war, um zu trösten mit dem Wort Gottes, das Ruhe gab und ein friedliches Sterben. Ein Phänomen, das der Priester Webern selbst nicht begriff.
»Ich führe Sie zum Chef, Herr Pfarrer«, sagte der Sanitäter, als Webern schwieg.
Sie kamen in den Operationskeller, wo Portner und Körner gerade eine große Brustwunde säuberten. Die Luft war stickig, verbraucht, blutgetränkt wie in einem ungelüfteten Schlachthaus. Dr. Körner blickte auf. Er erkannte den Pfarrer sofort, und auch Webern erinnerte sich an das Gespräch, das er mit dem jungen Arzt bei der Ferntrauung geführt hatte. Die Hochzeit mit einer Toten.
»Ich habe versprochen, Sie zu besuchen, Doktor«, sagte Webern und lächelte schwach. »Sie sehen, ich halte mein Versprechen.«
Dr. Portner warf einen Fetzen Brustfleisch in einen verbeulten Eimer. Es war brandig geworden, die Wundränder faulten bereits.
»Wie ist das eigentlich, Pfarrer?« fragte er und überlegte, wie er die offene Wunde schließen könnte. »Wenn Sie mit Ihrem Kreuz durch die Keller gehen, lacht man Sie dann nicht aus?«
»Nein, die Männer werden still.« Pfarrer Webern setzte sich auf einen Stuhl. Es war ein Klappstuhl aus dem Kino. Rund um die Wände hatte man sie angenagelt, nicht nur hier, sondern in allen Kellern unter dem Kino. Und so saßen die Jammernden und Sterbenden an den Wänden, rutschten auf die Erde, der Sitz klappte hoch, als habe ein Untier jemanden ausgespuckt und schließe nun das Maul. Es war ein höllisches Theater, ein Schauspiel der Apokalypse, in der die Zuschauer auch die Vernichteten waren.
»Sie umklammern meine Hand, und ich rede mit ihnen vom Paradies …«, sagte Pfarrer Webern weiter.
»Und sie glauben es?«
»Ja. Sie sterben friedlich.«
Über ihnen bebte die Kellerdecke. Die Erde schwankte leicht. Das Feuer der russischen schweren Artillerie am gegenüberliegenden Wolgaufer lag konzentriert auf dem Stadtviertel. Die Ruinen, die noch standen, wurden in den Schnee gefegt, die Keller verschüttet, die Bunker eingedrückt, die Menschen in den Schutt gewalzt. Pfarrer Webern starrte an die Kellerdecke. Stabsarzt
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