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Das Herz der Puppe

Das Herz der Puppe

Titel: Das Herz der Puppe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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Widu so lange auf dem Sofa ab.
    »Mama geht durch die Wohnung wie jemand, der etwas verloren hat, was er unbedingt wiederfinden muss«, sagte Nina später, als sie mit Widu in ihrem Zimmer war.
    »Logisch, sie hat ja auch ein Stück von sich verloren«, sagte Widu, »und sie wird es leider nie mehr wiederfinden. So ist das nämlich bei euch Menschen: Jeder Mensch, den ihr kennt, ist ein Stück von euch.«
    »Auch von mir?«, wollte Nina wissen.
    »Auch von dir«, sagte Widu.
    »Sogar Frau Wagner?«
    »Ja, sogar die.«
    »Und sterben Kinder auch? Oder stirbt man nur, wenn man alt ist?«
    »Der Tod ist wie ein großer Schlund, in den irgendwann alle fallen, Kinder und Erwachsene. Das ist das Schicksal von euch Menschen.«
    »Ich hab Angst vor dem Tod«, sagte Nina.
    »Das verstehe ich, aber man sollte es damit nicht übertreiben«, sagt Widu streng.
    »Aber alle haben Angst vor dem Tod«, erwiderte Nina.
    »Hör nicht auf das gejammer. Es ist nämlich so: Solange du lebst, hat der Tod dich nicht. Und wenn er dich eines Tages hat, bist du nicht mehr da und kannst keine Angst mehr vor ihm haben. Niemand hat den Tod je von Angesicht zu Angesicht gesehen. Und niemand weiß, wann er kommt. Denn der Tod hält sich an keine Termine. Er kommt entweder zu spät oder zu früh. – Vergiss ihn, wie du einen Traum vergessen kannst, und lebe, so viel du kannst.«
    »Aber was passiert jetzt mit Silke? Kevin in der Schule sagt, die Toten liegen in einem tiefen Loch, und Ratten und Würmer fressen sie auf.«
    »Ist Kevin nicht der Blödmann, der seine Katze quält?«
    Nina nickte.
    »Hör nicht auf ihn! Er will nur gemein sein. Silke ist jetzt schon ganz woanders. Das, was von ihr im Sarg liegt, ist nur die Hülle, nur das Packpapier. Pass auf, ich verrate dir ein geheimnis: Sie war hier auf der Erde wie eine Raupe, die sich im Augenblick des Todes in einen Kokon zurückgezogen hat. Noch bevor der Sarg unter die Erde kommt, fliegt sie als unsichtbarer Schmetterling heraus. Die Hülle braucht sie jetzt nicht mehr, und glaub mir, sie ist darüber froh, denn ohne das lästige gewicht kann sie viel freier fliegen.«
    Später saßen die Eltern in der Küche, als sie Nina immer wieder sagen hörten: »Solange ich da bin, ist er nicht … und wenn er ist, bin ich nicht …«
    Sie redete so laut, als wollte sie den Satz auswendig lernen. Die Mutter klopfte und spähte durch den Türspalt.
    »Wer soll das sein, der nie was isst, wenn du da bist?«, fragte sie neugierig.
    »Der Tod«, sagte Nina und musste lachen bei dem gedanken, dass der Tod dann ja hungern müsste, solange sie lebte.

Die verlorenen Buchstaben
    Plötzlich stand Nina in einem fensterlosen großen Raum mit hohen Wänden. Alles war dunkelgrau: die Wände, der Boden, ein Tisch und die beiden Stühle, die daneben standen. Ein großes Neonfragezeichen hing wie eine Lampe von der Decke, und ein einsames rotes Sofa stand auch noch da. Nina wunderte sich zwar, wohin sie geraten war, aber sie spürte keine Angst, denn Widu saß auf ihrem Arm und schmatzte genüsslich.
    Als Nina auf das Sofa zuging, entdeckte sie ein kleines Buch mit einem Umschlag aus Leder, der genauso rot war wie das Sofa. Sie nahm das Buch in die Hand, und als sie es öffnete, rieselten Buchstaben heraus wie schwarzer Schnee. Als Nina nach unten schaute, sah sie ihre Füße nicht mehr. Sie bückte sich, um einen Buchstaben aus dem Häufchen aufzuheben, und legte ihn auf ihre flache Hand. Es war ein M und fühlte sich nicht kalt an, sondern warm wie Holz. Nina betrachtete die Seiten des Buches, und sie waren weiß. Dann hörte sie eine Stimme, die sich wie die von Frau Wagner anhörte. Auch Frau Wagner rollte das r: »Du darrrfst errrst wiederrr nach drrraußen, wenn du alle Buchstaben georrrdnet hast«, sagte die Stimme.
    Widu leckte genüsslich an der Angst, die sie in Nina aufsteigen spürte.
    »Was mach ich denn bloß?«, fragte Nina.
    »Erzähl einfach eine geschichte!«, sagte Widu. »Dann kehren die Buchstaben ins Buch zurück.«
    Nina dachte nach und lächelte.
    »Ich erzähle die geschichte, die du mir gestern erzählt hast«, sagte sie und fragte sich, wie das mit der Rückkehr wohl gehen sollte. Ob die Buchstaben wie kleine Insekten von ihren Füßen aufflogen und auf den leeren Seiten landeten, wenn sie zu erzählen begann?
    »Die geschichte heißt g roß und klein «, erzählte sie, und da sah sie es auch schon: Wie ein Schwarm Mücken kamen die Worte angeflogen und nahmen auf der Seite Platz. »Und die

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