Das Herz der Puppe
nicht glauben, dass Laura nicht ihre Freundin sein sollte. Das konnte sie sich doch nicht nur eingebildet haben. Vielleicht sei es Laura ja nur rausgerutscht, meinte sie.
»Rausgerutscht?«, rief Widu und verschluckte sich dabei fast vor Lachen. »Wenn einem etwas rausrutscht, dann macht man eine gemeine Bemerkung oder einen Witz. Oder man lacht. Aber man verpetzt doch niemand. Nie! Das macht man kalt und mit Bedacht. Weißt du, warum sie dich verpetzt hat? Weil du kein Teil von ihr bist. Wenn du ein Teil von ihr wärst, wie es bei richtiger Freundschaft sein soll, dann hätte sie so etwas nie im Leben gemacht. Oder glaubst du, jemand würde zu seiner Lehrerin gehen und zum Beispiel sein eigenes Ohr, sein Herz oder seine Nase verpetzen?«
Nina lächelte und schüttelte den Kopf.
» Deshalb ist Laura nicht deine Freundin. Und deshalb wird sie dich jederzeit wieder verpetzen. Oh, wie ich Petzer hasse!«, sagte Widu bitter.
»Ich auch«, sagte Nina. Und dann erzählte sie von ihrer Angst, die Mutter könnte sauer sein, wenn sie von dem Streit und der Strafe erfuhr. Aber Widu saugte die Angst schnell fort, leckte sich genüsslich die Lippen und sagte: »Das glaube ich nicht. Deine Mutter mag auch keine Petzer.«
Als Nina ins Wohnzimmer kam, saß die Mutter am Computer. Erstaunt hörte sie sich an, was Nina ihr erzählte, dann drückte sie ihre Tochter an sich und gab ihr einen Kuss. »So geht’s ja nicht«, sagte sie und griff zum Telefon.
»Guten Tag, Frau Wagner«, hörte Nina die Mutter höflich sagen, und zu dem, was danach kam, hätte sie gern das gesicht der Lehrerin gesehen. »Eins sage ich Ihnen noch«, schloss die Mutter, »Sie sollen unsere Kinder nicht zu Spitzeln erziehen, sondern zu aufrichtigen Menschen. Spitzel gibt es auf der Welt schon genug! Die Sache mit dem Petzen möchte ich gern bei der nächsten Sitzung des Elternbeirats diskutieren, und ich wünsche mir, dass Sie dabei sind.«
Dann legte sie auf, und Nina fand, ihre Mutter sah auf einmal groß und strahlend aus. »Ich habe einen Mordshunger«, sagte Nina, und Widu grinste zufrieden.
Gestern und heute
An einem verschneiten Tag im Januar kam Tante Olga zu einem ihrer Nur-so-Besuche. Nina hoffte auf eine spannende geschichte, aber an dem Tag hoffte sie vergebens. Tante Olga fing von früher zu erzählen an, und wenn sie von früher erzählte, war nur irgendwie alles besser: Die Straßen waren sauberer, die Tomaten und Kartoffeln schmeckten besser, und obendrein waren sie billiger. Die Leute waren ehrlicher und vor allem höflicher, die Sonne schien heller, und der Regen begoss die Felder und überschwemmte nicht die Städte und Dörfer, denn der Fluss, behauptete die Tante, kannte noch seinen Weg und wusste, wie es friedlich zum Meer nach Hause geht. »Erst seit man ihn begradigt hat, ist er völlig durcheinander«, sagte sie. »Überhaupt war früher mehr Ordnung und nicht Chaos auf der Straße, es gab ehrliche Händler und gute Ärzte, und von der Rente konnte man sich noch was leisten. Da herrschte noch Anstand in der Welt …«
Ninas Vater verdrehte hinter seiner Zeitung die Augen, und Ninas Mutter schien auf Durchzug geschaltet zu haben, wie sie es nannte, wenn sie jemandem nicht mehr zuhören wollte und nur gelegentlich ein »Ja, ja … ach was?« einstreute, um Interesse vorzutäuschen. Nina erkannte das immer sehr schnell.
»Und vor lauter Anstand haben sie Kriege angefangen. Die Alte nervt«, lästerte Widu.
Nina schaute die Puppe mit großen Augen an. »Woher weißt du das?«, wollte sie wissen.
»Ach, Kind«, sagte die Tante, die glaubte, Nina hätte sie gefragt. »Ich hab’s doch selbst erlebt.«
»Frag sie: Und die Kriege? Sie ist uralt und hat bestimmt viele Kriege erlebt«, flüsterte Widu.
»Und die Kriege?«, fragte Nina.
Ihre Mutter, die gerade Kaffee kochen wollte, drehte sich zu ihr um. »Nina, willst du nicht lieber in deinem Zimmer spielen?«
Ninas Vater faltete die Zeitung zusammen und zwinkerte Nina zu. geh nur, hier wird es ohnehin gleich noch langweiliger!, sollte das bedeuten.
»Ja, mein Kind, die Kriege, nun ja …«
Tante Olga hielt inne, und Widu lachte: »Tja, dann verabschiede dich mal artig und sag der Tante:
Auch früher sagten die Leute,
gestern wär ’ besser als heute.
Das hab ich vor genau sechzig Jahren gedichtet.«
Da stellte sich Nina vor ihrer Tante auf und sagte schön laut und langsam: »Auch früher … sagten die Leute … gestern … wär’ besser als heute.«
Die
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