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Das Herz der Puppe

Das Herz der Puppe

Titel: Das Herz der Puppe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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Regen«, sagte Nina, als sie an einem Frühherbsttag am Fenster stand und sah, wie ein kleiner Schauer die Leute rennen ließ.
    »Und ich bin die Pfütze, die deine Tropfen sammelt und daraus einen Spiegel macht, der dich später an den blauen Himmel erinnert«, sagte Widu.
    »Ich bin ein starker Bär«, sagte Nina.
    »Und ich bin die kleine Biene, die dir Honig gibt, und wenn du es beim Schlecken übertreibst, dann steche ich dich in die Nase.«
    »Ich bin ein Baum«, sagte Nina.
    »Und ich bin ein Bach, der dich umschmeichelt«, antwortete Widu.
    »Ich bin die Erde.«
    »Und ich bin der Mond, der dich in der Nacht besucht.«
    »Ich bin eine Violine.«
    »Und ich bin der Bogen, der aus dir die schönste Musik herauskitzelt.«
    »Ich bin die Sonne«, sagte Nina.
    »Und ich bin die Blume, die dein Licht in Farbe und Duft verwandelt.«
    »Ich bin ein Fisch«, sagte Nina.
    »Und ich bin das Wasser, das dich trägt«, antwortete Widu.
    »Ich bin ein schneller Hase«, sagte Nina.
    »Und ich bin ein Karottenfeld, größer und weiter, als dein Auge reicht. Aber sobald du Hunger hast und in eine Karotte beißt, bin ich in dir.«
    »Ich bin der starke Wind«, sagte Nina.
    »Und ich bin ein Segelboot, das dich nützlich macht«, antwortete Widu.
    »Ich bin eine starke Löwin«, sagte Nina.
    »Und ich bin eine Maus, die dich aus dem Netz befreit, mit dem dich ein böser Jäger gefangen hat.«
    »Aber hoffentlich passiert dir nicht das, was der Maus passierte, als sie einen Hund befreite«, sagte Nina.
    »Was ist der Maus denn passiert?«, wollte Widu wissen.
    »Tante Olga hat mir die geschichte erzählt, warum sich Hund und Katze nicht ausstehen können – kennst du sie nicht?«
    »Nein, erzähl!«, sagte Widu.
    »Die geschichte geschah vor langer, langer Zeit. Da stand der erste Hund, der je bei einem Menschen gelebt hat, eines sonnigen Tages an einem Baum. Er war mit einem Seil festgebunden, und als er spielen wollte, hinderte ihn das Seil daran. Er bat seine Freunde, ihn zu befreien, das Pferd, das Lamm, den Esel, die Katze, den Hahn und die gans. Aber so heftig das Pferd auch ausschlug, der Esel auch iahte, der gockel auch krähte, die Katze auch miaute und kratzte und die gans aufgeregt schnatterte – das Seil blieb fest. Da kam eine Maus vorbei, sah den traurigen Hund und hatte Mitleid mit ihm. Sie rief ihm zu: ›Ich befreie dich, wenn du versprichst, mir die Katze vom Hals zu halten!‹
    Pferd, Esel, Hahn, Katze und gans lachten die Maus aus, aber der Hund versprach es, und die Maus mit ihren spitzen Zähnen nagte so lange an dem Seil herum, bis der Hund frei war. Da jubelten alle, auch die, die vorher gelacht hatten, und der Hund sprang fröhlich herum und verlor vor lauter Freude die Katze aus dem Blick. Da sprang die Katze blitzschnell hin und fraß die Maus mit Haut und Haaren. Seitdem sind die Hunde und die Katzen Feinde.«
    Als Nina einschlief, fühlte auch Widu eine schwere Müdigkeit, aber sobald sie die Augen schloss, wirbelten die Fragen nur so durch ihren Kopf. Warum zum Beispiel konnten Kinder sich so freuen? Beim Spielen konnten sie sich vergessen, bis sie vor Freude hüpften, das hatte Widu oft gesehen, nicht nur bei Nina, sondern bei vielen Kindern. Hätte Nina heute Flügel gehabt, wäre sie vor Freude über das Spiel Was Freunde alles sein können in den Himmel geflogen. Widu konnte sich auch freuen, und sie lachte auch gerne, aber sie vergaß sich nie, und ihre Freude wurde nie so wild, dazu war sie viel zu – ja, was eigentlich? Vernünftig? genau, vernünftig war das richtige Wort. Und vielleicht fehlte es den Menschen an Vernunft, und sie konnten sich deshalb so wild freuen. Widu lächelte. Für ein bisschen Wildheit würde sie gerne ein bisschen Vernunft abgeben, überlegte sie sich. Dann schlief sie lächelnd ein.

Ein Freund petzt nie
    Es war nicht lange vor Weihnachten, als Nina richtig wütend aus der Schule kam. Es war ein schrecklicher Tag gewesen. Sie hatte sich mit ihrer Freundin Laura gestritten, und Laura hatte nichts Besseres zu tun gehabt, als zur Lehrerin zu laufen und zu behaupten, Nina hätte angefangen.
    Frau Wagner hatte Nina bestraft, und Laura hatte auch noch gekichert.
    »So was will meine Freundin sein – verpetzt mich, nur weil wir uns gestritten haben!«, schnaubte Nina und wunderte sich, als Widu kühl erwiderte:
    »Laura ist nicht deine Freundin. Eine Freundin, mit der man nicht streiten kann, ist keine. Außerdem petzt eine Freundin nie.«
    Aber so schnell wollte Nina

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