Das Herz des Drachen
den Job bei Shin’s Delight bekam.
Obwohl Mya sehr gern schauspielerte und wirklich Talent hatte, hatte sie niemals den Antrieb gehabt, ihre Karriere ernsthaft zu verfolgen. Sie hatte Fotos eingereicht und an Vorsprechen teilgenommen, die ihr Rollen in verschiedenen Stücken in Theatern im Tenderloin District eingebracht hatten. Nichts davon erweckte allerdings ernsthafte Aufmerksamkeit.
Also nahm sie in alter Tradition der Schauspieler einen Job als Kellnerin an. Als sie mit dieser Arbeit anfing, erinnerte sie sich an einen Witz, den einer ihrer Professoren an der SFU erzählt hatte.
Ein Mann trifft eine Frau in einer Bar.
Der Mann fragt: „Was machst du beruflich?“
Die Frau antwortet: „Ich bin Schauspielerin.“
Darauf der Mann: „Oh, ja. In welchem Restaurant?“
Myas Gesicht verriet nicht nur die chinesische Herkunft ihres Vaters, denn sie hatte auch die blauen Augen ihrer Mutter geerbt. Ihre asiatische Erscheinung machte es schwierig für sie, an gute Rollen zu kommen. Allerdings verbesserte sie ihre Chancen auf einen Job in Chinatown.
Dazu kam, dass Mya neben englisch auch fließend chinesisch und deutsch sprach. Sie war also mehr als qualifiziert, in einem Restaurant zu arbeiten, das sogar in der touristischen Hauptsaison fast nur von Einwohnern aus Chinatown besucht wurde.
Shin’s Delight an der Pacific Avenue war so ein Restaurant. Und außerdem suchten sie Personal.
Zuerst lief alles gut. Mya arbeitete gern mit Leuten und mochte ihre Arbeitskollegen. Ehrlich gesagt kam Mya mit jedem gut aus.
Es gab allerdings eine Ausnahme – den merkwürdigen, älteren Herren, der das Restaurant leitete.
Albert Chao war ein geheimnistuerischer Mann mit einer spitzen Nase, der kaum aus seinem Büro herauskam. Wenn er das tat, dann meistens um jemanden anzuschreien – mit oder ohne Grund. Oder um mit der Polizei zu sprechen, die regelmäßig vorbeikam. Gelegentlich waren die Besucher uniformierte Officers, meistens kletterte allerdings ein Detective die Stufen zum Büro hinauf.
Mya hatte nie verstanden, warum die Polizei immer wieder ins Restaurant kam. Sie hatte Zhong, den Manager, gefragt, aber er hatte ihre Frage einfach abgeschmettert.
„Das ist nichts, was uns etwas angeht“, hatte er gesagt und sich im Raum umgeblickt, bis seine Augen an einem Tisch hängen blieben. „Tisch vier braucht noch Wasser – kümmere dich darum.“ Dann klatschte er in die Hände, um sie loszuschicken.
Sie tat, wie ihr befohlen, ließ sich aber nicht beirren.
Sie fragte vorsichtig herum und passte auf, dass Zhong es nicht mitbekam. Sie hörte allerdings nur Gerüchte und ihr gefiel nicht, was da gemutmaßt wurde.
Deshalb entschied sie sich, der Sache keine weitere Beachtung zu schenken.
Ein nahe gelegenes Geschäft wollte die Weihnachtsferien, die bald begannen, mit einem Mittagessen feiern und lud dazu all seine vierzig Angestellten zu Shin’s Delight ein. Zusätzlich zum Tagesgeschäft hielt das die gesamte Belegschaft auf Trab. Es bedeutete, dass ihr üblicher Vorrat schneller zur Neige ging als sonst. Bald hatten sie nur noch wenige Tischdecken und Servietten, also schickte Zhong Mya in den ersten Stock zum Lagerschrank, in dem einige Sachen für solche Notfälle aufbewahrt wurden.
Der Weg führte sie an Albert Chaos Büro vorbei und sie setzte ihre Füße nur vorsichtig auf, weil sie nicht bemerkt werden wollte. Während sie vorbeischlich, hörte sie einen Knall wie von einer Fehlzündung.
Aber das Geräusch kam aus dem verschlossenen Büro. Sie fragte sich gerade, ob es durch ein offenes Fenster hereingedrungen war. Dann roch sie Rauch.
Gefolgt von Gelächter.
Und dann hörte sie einen weiteren Schuss.
Mya erstarrte und umklammerte einen Stapel Servietten vor ihrer Brust. Jemand schrie.
Der Schrei endete so abrupt, wie er begonnen hatte, und wurde von einem Wimmern abgelöst. Sie war besorgt, dass vielleicht jemand verletzt war und ignorierte ihren Instinkt, der ihr sagte, so schnell zu rennen, wie sie konnte. Sie klopfte an die Tür.
„Hallo? Ist alles in Ordnung? Ich dachte, ich hätte etwas gehört?“
Die einzige Antwort war ein weiterer Knall. Das Wimmern verstummte.
Mya stand wie angewurzelt da. Die jetzt folgende Stille war noch furchterregender als die Geräusche.
Dielen knarrten und die Tür öffnete sich langsam.
Albert Chao hatte einen dicken, weißen Haarschopf, der in der Mitte gerade hochstand und ihm den halben Rücken hinunterhing. Er sah aus wie die asiatische Version eines
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