Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)
merkt es nicht einmal, seine Handflächen sind wund, aber er rudert weiter, als wäre er vor den Fragen der Welt auf der Flucht, auf der Flucht vor der Antwort auf die Frage, warum Kolbeinn unbedingt mitkommen wollte, auf der Flucht vor dem Appell seiner Mutter, so zu leben, dass ein Licht noch auf die Toten fällt, das zu leben, was sie nicht leben konnten. Besinnungslos rudert er so lange, bis Kolbeinn unwirsch fragt: Wohin fährst du eigentlich, Bursche?
Da blickt er erschöpft auf und sieht, dass sich durch den Regen etwas Dunkles und Großes abzeichnet.
Da ist Land, sagt er mit Verwunderung oder gar Erschrecken in der Stimme, als hätte er vergessen, dass es außer dem Meer auch noch etwas anderes gibt. Das Boot hebt und senkt sich auf langsamen, aber anwachsenden Wellen. Der Junge beugt sich vor und ruht sich auf den Rudern aus, die ins Wasser hängen, zwei lange Arme, die sich nach dem Meeresgrund strecken.
Was glaubst du, wo wir sind?, fragt der Junge, als er wieder einigermaßen zu Atem gekommen ist. Ihm läuft nicht mehr der Schweiß herab, und das Herz hat aufgehört, zu hämmern und Kraft in die Ruder zu pumpen.
Wo willst du denn hin?, erkundigt sich Kolbeinn gemächlich, als ob es ihn gar nicht mehr richtig interessierte, und da sagt der Junge es ihm, das heißt, er sagt natürlich nicht, zu der, die mir merkwürdige Briefe schreibt, der mit den roten Haaren, deren Farbe selbst durch Berge leuchtet, sie hat ein kleines Kind, ist arm, ich fürchte, ein Leben mit ihr könnte eine ewige Plackerei werden, ich könnte mit kaputten Händen und geplatzten Träumen auf See enden, nein, er sagt einfach nur: Nach Sléttueyri. Der Name enthält aber natürlich all das, was wir gerade aufgezählt haben, und darum zittert seine Stimme leicht.
Dann hättest du aber Kurs Nord und nicht Nordwest halten müssen.
Ich weiß, glaubst du, wir sind nach Nordwesten gefahren?
Kolbeinn antwortet nicht, er hat keine Lust, die Antwort ist zu offensichtlich, er muss über anderes nachdenken, das nicht so einfach ist. Der Junge ändert die Richtung und rudert dann auf den Namen zu, der seine Stimmbänder zittern lässt. Er rudert parallel zur Küste, die ein massiver, dunkler Schatten ist, er rudert mit Kraft, aber langsam und denkt: Jetzt ist es so weit.
Es wird windig. Die Wellen unter dem Boot werden höher, die Regentropfen werden zur Peitsche, mit der der Wind sie züchtigt. Und Kolbeinn lächelt. Ein unbegreifliches Lächeln, das sein Gesicht verändert, das aus einer lückenhaften Reihe von Zähnen unter toten, dunklen Augen besteht. Der Junge hat noch nie etwas wie dieses Grinsen gesehen, ein Schauer überläuft ihn, ein Schauder der Furcht, und er sagt konsterniert: Es weht.
Da grinst Kolbeinn nur noch breiter.
Wir sind recht nah am Land, oder?, möchte er wissen.
Etwa fünfzig Meter, antwortet der Junge. Es ist nicht mehr so düster wie vorhin – wie es scheint, hat der Wind der Helligkeit Leben eingehaucht. Einzelheiten kann der Junge noch nicht unterscheiden, Steine und Schemen verschmelzen, aber er sieht einen Schatten, ein menschliches Wesen, ein Schaf, irgendwas. Er muss sich konzentrieren, um das Boot ruhig zu halten. Ist es unter ihnen tief? Den Wellen nach zu urteilen, schon, etliche Meter. Kolbeinn grinst immer noch, angesichts dieses Grinsens kann sich kaum ein Mensch wohlfühlen. Der Junge nimmt das Rudern wieder auf, recht kräftig, er hat etwas im Magen gespürt, ein Unwohlsein, Angst.
Dann bist du in Sicherheit, sagt der alte Mann.
In Sicherheit wovor?
Du bekommst die Bücher.
Die Bücher, wieso sollte ich die bekommen?, fragt der Junge, legt noch einen Zahn zu und hält unbewusst etwas mehr auf das Land zu.
Ich fahre nicht weiter mit, sagt Kolbeinn fast triumphierend. Ich bin im Meer zu Hause.
Keiner ist im Meer zu Hause, außer den Fischen, sagt der Junge. Und du bist kein Fisch.
Kolbeinn: Was bin ich dann?
Du bist ein Mensch, sagt der Junge und stellt das Rudern ein.
Ein Mensch, was redest du denn da? Ich bin ein blindes Wrack, ein hilfloser Krüppel, so sollte kein Mensch leben.
Niemand ist im Meer zu Hause, wiederholt der Junge.
Kolbeinn: Zu Hause. Als ob unsereiner ein Zuhause hätte. Du und ich, wir haben kein Zuhause. Dafür ist gesorgt worden. Geh gut mit den Büchern um, du bekommst sie alle bis auf eins.
Welches?, fragt der Junge spontan, ein einzelnes Buch lässt ihn sofort vergessen, dass es um Leben und Tod geht.
Das solltest du von allen am besten wissen, sagt der alte
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