Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)
Fuß an, und der Kahn gleitet ins ruhige Wasser. Es ist Morgen, kurz nach sieben Uhr, und Regentropfen zerbröseln das Licht zwischen ihnen, verwandeln es in Halbdämmer. Der Junge sitzt im Boot, ergreift die Ruder.
Das Meer ist gut, sagt Kolbeinn.
Es hat sich abgezeichnet.
Vielleicht hat er die Entscheidung längst getroffen, sich nur noch nicht zu ihr zu bekennen gewagt. Er hatte Angst, alles falsch zu verstehen, Angst, dass es zum Schlechten ausschlagen könnte, wenn er danach handelte.
Er ist am Abend aufgestanden, etwas in ihm hatte ihn dazu getrieben, und dem war er gefolgt. Er erhob sich und hat all das über das Leben, die Macht und den Tod von sich gegeben. Er hielt diese Rede und traf zugleich seine Entscheidung oder zog vielmehr die Konsequenzen aus ihr. Sich ein kleines Boot ausleihen, gen Norden nach Sléttueyri rudern, zu den roten Haaren, zu dem, von dem er noch nicht weiß, was es ist. Das musste er nun tun. Das Herz befahl es. Und wer nicht auf sein Herz hört, wird zu einem grauen Schatten.
Natürlich konnte er ein kleines Boot haben.
Nimm nur den Kahn, sagte Kjartan und beschrieb ihm, wo er ihn fand. Willst du weit hinaus?
Ich weiß nicht. Hoffentlich die ganze Strecke, sagte der Junge.
Donnerwetter!, sagte der Pfarrer. Aus dem Abend wurde Nacht, der Regen fiel ohne Unterlass aufs Dach, jeder Tropfen eine Anklage, und Kjartan konnte nicht schlafen, er lag in seiner Kammer hinter dem Schlafzimmer, jeder Tropfen ein vorwurfsvolles Wort. Ein Wort Gottes? Ein Wort des Lebens? Antworten dürfte es kaum geben, dachte Kjartan und blieb liegen, anstatt zu Anna ins Schlafzimmer zu gehen, denn vielleicht wartete sie auf ihn, vielleicht hoffte sie, er würde sich zu kommen trauen, er würde den Mut aufbringen, das zu übersteigen, was zwischen ihnen stand, die Enttäuschung des Lebens. Ich bin verdorbenes Heu, das der Herr fortgeworfen hat, dachte Kjartan und schloss die Augen. Er versank in Selbstmitleid, eine der Todsünden, anstatt zu ihr zu gehen und sie sagen zu hören, küss mich und küss mich, gib mir so viele Küsse, wie Regentropfen auf dem Dach sind, mach deine Fingerspitzen zu Küssen, küss mich und fass mich an, und wir machen die Erde bewohnbar, küss mich, und wir verwandeln die Steine in ein Blumenbeet.
Haben sich Gísli und Geirþrúður geküsst?
Sag mir Bescheid, wenn du gehst, hatte Geirþrúður zum Jungen gesagt, das war gegen Mitternacht, und es regnete. Er tat, was sie wünschte, und schlich in der Morgendämmerung durchs Haus, wäre beinah über Kolbeinn gestolpert, der zusammengerollt wie ein Hund im Flur schlief, wild entschlossen, mitzukommen.
So weit kommt’s noch, hatte der Junge gesagt, doch dann zu seinem Erschrecken so etwas wie Verletztheit auf dem Gesicht des alten Steinbeißers gesehen, als würde sich eine Wunde öffnen, und er hatte sich schnell einverstanden erklärt. Er schlich die Treppe hinauf, Geirþrúður und Gísli schliefen im Zimmer der Mägde, und der Junge wollte nur leise ins Zimmer flüstern, dass er jetzt aufbrechen werde, doch Geirþrúður wurde wach und setzte sich im Dämmerlicht auf, sie war nackt. Er guckte weg.
Ich gehe jetzt, sagte er, nachdem sie aufgestanden war und sich einen Morgenrock übergeworfen hatte. Gísli schlief auf dem Rücken wie ein Toter, abgesehen davon, dass er schnarchte, und das tun Tote nie.
Ich weiß, nach Sléttueyri, sagte Geirþrúður.
Woher weißt du das?
Wahrscheinlich ist es mein Unglück, dass ich die Menschen kenne. Geh! Sonst wirst du es ewig bereuen. Wiederkehrende Träume können Menschen gefährlich werden. Geh, aber komm zurück. Lass mich nicht allein!
Ich? Kann ich dich alleinlassen?, fragte er überrascht. Gísli schnarcht, sagte er, als sie schwieg, aber das Geschnorchel des Rektors plötzlich beträchtlich lauter wurde und sich zu Lärm steigerte.
Soll ich ihn gleich erschießen?
Und wer soll mir dann Unterricht geben?
Stimmt auch wieder.
Sie bespritzten ihn lieber mit etwas Wasser, da erschrak er so, dass er sich auf die Seite warf und das Schnarchen hörbar leiser wurde.
Siehst du, meinte Geirþrúður, ich brauche dich.
Sie begleitete ihn nach unten, um mehr Wasser zu holen, verabschiedete ihn dann an der Tür mit einem Kuss auf die Stirn, als wollte sie ihn segnen.
Du willst doch sicher mit ihm gehen, alter Seebär. Bist du sicher, dass das noch das Richtige für dich ist?
Lass mich gehen, sagte er, bettelte er.
Am liebsten nicht, meinte sie, umarmte den Alten aber doch, als
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