Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)
Kapitän. Ich habe es eingesteckt. Ich verbiete dir, irgendwas zu unternehmen. Erweise mir so viel Respekt, mich mit Anstand gehen zu lassen. Kein Getue, kein Geschrei um mich, keine beschissene Hysterie. Ich habe lange genug als die erbärmlichste Kanaille von allen gelebt, ich will nicht auch noch als solche sterben.
Aber …, sagt der Junge. Aber …, fängt er noch einmal an.
Kein Aber, sagt Kolbeinn. Schluss damit! Ich bin an dem Punkt angekommen, an dem Argumente nichts mehr zählen.
Damit erhebt er sich, er steht in dem schwankenden Kahn auf, richtet sich auf wie jemand, der sich noch seine Integrität, seine Würde bewahrt hat. Der Wind furcht jetzt das Meer auf, er sprüht Gischt über sie, Kolbeinn richtet sich auf, schnell, aber mit Autorität und vollkommen furchtlos, er hebt den rechten Arm, vielleicht zum Abschied, aber da steht der Junge ebenfalls auf und sagt etwas, das ein Gebet, eine Verwünschung oder ein Überredungsversuch sein könnte, er streckt die Arme nach Kolbeinn aus, der plötzlich unruhig wird und hastig ein Bein hebt. Er will einfach über die Bordwand steigen, hinab auf den Meeresgrund, der Tod wird ihm neue Augen verleihen, denn die in seinem Kopf sind völlig unbrauchbar, tatsächlich so unbrauchbar, dass er sich verkalkuliert und das Bein nicht hoch genug hebt, es fehlen ein paar Zentimeter. Das Boot schaukelt jetzt auch ordentlich, daher ist es schwer, die Höhe richtig abzuschätzen, und so senkt Kolbeinn das Bein an der falschen Stelle, nicht ins Meer, sondern auf den Bootsrand. Beide verlieren das Gleichgewicht, das Boot schlägt um, und sie landen im Wasser, zwei Nichtschwimmer, schreiend und fluchend. Wo ist denn jetzt die Würde geblieben? Gibt es sie weder im Leben noch im Tod?
XII
Liegt man im Wasser, dann liegt man drin. Einfache Feststellung, so selbstverständlich, dass man sie gar nicht eigens auszusprechen brauchte. Aber es ist natürlich absolut nichts Selbstverständliches daran, im Meer zu liegen, wenn du nicht schwimmen kannst und außerdem die Tiefe des Meeres und das Ertrinken fürchtest, solange du denken kannst, du nun aber überraschend zwischen hohen Wellen im Meer gelandet bist, während du in Gedanken eigentlich gerade dem Sinn des Lebens auf der Spur warst, na ja, oder auch seiner Sinnlosigkeit, aber stattdessen fliegst du ins Wasser, planschst, spuckst, fluchst, hast Angst, und die Tiefe zieht dich nach unten, dem Meeresgrund entgegen, wo alles zu Ende ist, wo deine Hände zu kalten Quallen werden. Nicht weit von dir planscht ein blinder, alter Sack mit einem kostbaren Buch in der Jackentasche, das jetzt beschädigt wird, Worte vertragen Salzwasser, Bücher nicht. Ganz plötzlich seid ihr beide ins Meer gestürzt, das euch entgegennahm wie kleine Steinchen, wie Regentropfen; dermaßen plötzlich, dass selbst der alte Kapitän auf einmal sein Leben wiederhaben möchte, diesen Schutthaufen, dieses grobe Tier, und deswegen taucht er fluchend unter, spuckt einen Schwall derber Flüche aus, vielleicht auch deswegen, weil er zu einem großen Teil die Schuld daran trägt, dass der Junge ertrinkt, den das Leben in Geirþrúðurs Haus gespült hat, der das Behältnis für Träume, Trauer und Sehnsucht abgab, eine Stimme, die mit Neuigkeiten über Lyrik und den Tod in das Leben des alten Steinbeißers getreten ist, eine Stimme wie eine Erinnerung an etwas, das Kolbeinn nie erlebt, aber trotzdem vermisst hat, so dumm das auch ist. Aber wie auch immer, Vermissen und Dummheit sind jetzt beide auf dem Weg in die Tiefe, ein alter, blinder Steinbeißer mit einem Buch in der Tasche, eine Dichtung, die mit viel Licht aus der Dunkelheit kam. Licht, das Bárður tötete und all das auslöste, was wir dir erzählt haben, was wir angeführt haben, um das Leben zu ändern, um nach Gott, Vergessen, neuen Ufern und trockenen Socken zu rufen – wie passend ist es da nicht, wenn dieses Buch im kalten Meer versinkt? Im August, bei prasselndem Regen, im Schweigen der See versinkt, zusammen mit diesen beiden Leben, die von einer unerklärlichen Kraft zu den Worten hingezogen wurden. Liegen in diesem traurigen Vorgang nicht sogar Schönheit und Harmonie? Doch, das passt. Schönheit. Harmonie. Und vier um sich greifende Hände, zwanzig Finger, Rufe, Flüche, aufgerissene Augen, die Vorstellung, hinabzusinken und sich schnell in Finsternis zu verwandeln, in ein schwarzes Loch. Ja, vielleicht passend, aber doch schäbig und unerträglich, denn warum soll zum Beispiel dieser Junge
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