Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)
wäre er etwas Kostbares, sie hielt ihn fest wie in Trauer und ging dann mit Wasser nach oben, um das Schnarchen zu unterbinden. Nicht einmal eine Winternacht hatte so schwarze Augen wie sie.
Kolbeinn und der Junge traten ins Frühlicht hinaus, der alte Kapitän blind zwischen seinen Büchern und im Gewimmel der Wörter, seine kräftige Hand hielt sich an der Schulter des Jungen fest, und sie gingen Schritt für Schritt dem Ufer zu. Zwei Männer, und fast das Einzige, was sie verband, waren die Richtung zum Meer und die Faust auf der Schulter des Jungen.
Der Junge bekam das Boot, den Kahn, schnell umgedreht.
Ich habe schon in größeren Särgen gesessen als in dem, sagte Kolbeinn.
Du möchtest also mitkommen, stellte der Junge fest und schluckte etwas Schwieriges herunter.
Es ist lange her, dass ich wirklich etwas gewollt habe.
Aber du möchtest mit?
Hast du den Kahn losgemacht?
Ja.
Worauf warten wir dann?
Auf nichts, gab der Junge zurück, rührte sich aber nicht, er konnte einfach nicht, als hätte ihn die Größe des Meeres überwältigt oder die Angst vor dem, was ihn erwartete, eine Niederlage oder ein neues Leben, in diesem Fall: was für ein Leben? Ein Leben der Schufterei und der Enttäuschungen? Lebe! Die Bitte seiner Mutter Elín, der kein Weiterleben vergönnt war und die vorher noch das Sterben ihrer dreijährigen Tochter mitansehen musste. Sie starben im Frühjahr, als draußen die Schneemänner schmolzen, eine ganze Familie, fünf Schneemänner, die tauten und in die Erde sickerten mit ihren Lachgesichtern und ihrer weißen Farbe, die spurlos in dunkler, nasser Erde verschwanden. Wann gehen wir?, hatte Lilja gefragt und gemeint: Wann besuchen wir meine Brüder?, aber ihre Frage kam schon so schwach, dass sie kaum zu verstehen war. Morgen, mein Goldstück, hatte Elín zurückgeflüstert, und ich werde dich den ganzen Weg über an der Hand halten. Da hatte Lilja den Zeigefinger der Mutter genommen und war eingeschlafen, glücklich, dass morgen alles wieder gut würde, ganz fest hatte sie ihn gehalten, aus reiner Liebe, aber womöglich auch aus einer tief sitzenden Angst des Lebens, das die Nähe des Todes fühlt und die Finsternis kommen spürt. Sie hatte festgehalten, und Elín hatte ihre Stirn an die des Kindes gelehnt und mit aller Kraft, mit jeder Zelle ihres Körpers gedacht: Du darfst sie nicht holen, du darfst es nicht! Ich bitte dich, verschone dieses Leben, dieses Licht, dieses kleine Mädchen. Hab Erbarmen, ich bitte dich!
Der Tod aber stampft über unsere Wünsche und Bitten hinweg, über unsere Verzweiflung und über unsere Kraft, er tut, was er will.
»Björgvin und ich wollten so viel erreichen im Leben. Wir waren davon überzeugt, uns langsam aus unseren ärmlichen Verhältnissen nach oben arbeiten und ein erträgliches Leben führen zu können. Ein Leben mit euch, mit Büchern und mit etwas Schulbildung, ein Leben in Freude. Wir haben ja nicht um viel gebeten, um keine Reichtümer, bloß um das, was wir mit eigenen Händen erreichen konnten. Aber vielleicht ist es schon zu viel, auf dieser Welt, in diesem Leben um Liebe und Glück zu bitten. Mein lieber, lieber Junge, ich habe so viel geweint, dass ich keine Tränen mehr habe, und was kann ich da noch tun? Lilja liegt neben mir im Bett, ganz dicht bei mir. Hättest du sie doch nur noch einmal sehen dürfen! Sie war immer so fröhlich, und sie war immer so voll Leben! Ein klein bisschen frech. Zwitscherte immer so unwiderstehlich, wenn sie gut aufgelegt war. Schöner als alles, was es sonst gibt. Doch wenn du sie jetzt sehen könntest, so furchtbar klein und wehrlos, ihre hübschen Mundwinkel ganz leblos. Sie liegt so dicht neben mir und ist doch fortgegangen, ist so furchtbar weit weg, dabei hat sie doch immer und immer wieder Fragen gestellt. Wie kann die Welt so grausam sein? Ich werde mich jetzt zu ihr legen und einen Schlaf schlafen, der tiefer ist, als das Leben aushält. Es ist nicht gerecht. Es hat so viel in Lilja gesteckt und auch in Björgvin, und bald wird das alles zu nichts zerfallen sein, als hätte es nie existiert. Als hätten wir niemals gelebt. Niemals gelacht, uns nie in den Armen gehalten, uns nie Dinge gesagt, die mehr wert sind als tausend mit Gold beladene Schiffe. Das Gold verschwindet nicht aus der Welt, aber das Leben. Dabei ist Gold nichts weiter als kaltes Erz, und Kälte kann die Menschen weder trösten noch glücklich machen. Ist das die Welt, die du sehen wolltest, Gott? Wohin geht all unsere
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