Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)
um ein Schluchzen zu unterdrücken. Eines der schlimmsten Dinge, die wir einem anderen Menschen antun können, ist, in seiner Gegenwart zu weinen, und deshalb weinen wir am liebsten allein, in einem Versteck, als würden wir uns schämen, dabei gibt es wahrscheinlich kaum etwas Reineres auf dieser Welt als ein aus Sorge entsprungenes Weinen. Die Anstandsregeln lassen uns schon komische Dinge tun.
Was wird jetzt aus den Kindern auf Nes?, fragt der Junge schließlich. Und aus Bjarni?
Darauf antwortet Jens gar nichts – oder doch, wahrscheinlich brummt er Hmm, was etwa so viel bedeuten könnte wie: Das Leben ist ein schwieriger Berg. Er hat die Augen geschlossen, und dann ist er eingeschlafen. In diese Welt hineingesunken, die so tief ist, dass sie fast bis an den Tod hinabreicht. Er schläft und ballt unbewusst die Fäuste in den Verbänden, wehrlos in der Traumwelt.
VI
Es ist Tag, ein stiller, heller Tag, und Jens ist nicht im Zimmer. Der Junge sitzt lange am Fenster und schaut hinaus. Er sieht einer Horde schreiender, lärmender und lachender Kinder zu, die zwischen den Häusern spielen. Sie haben im Schnee einen großen Kreis gezogen, und drei der Größten versuchen die anderen in den Kreis zu zerren. Der Junge sieht ihnen lange zu, denkt an das Vergangene und reibt sich die Brust, unter der das Herz sitzt, das schneller altert als andere Organe, abgesehen vielleicht von den Augen. Die Zahl der Kinder im Kreis wächst, sie hüpfen darin herum und rufen den anderen, die sich noch außerhalb befinden und von den drei Stärksten gejagt werden, Warnungen und Anfeuerungsworte zu.
Einmal waren wir alle Kinder, die Sommer waren noch länger und wärmer, die Welt lag vor uns, unbegreiflich und voller Verlockungen. Das war einmal. Ich habe einmal gelebt. Du hast mich einmal geliebt. Es war einmal. Gibt es einen traurigeren Satz als diesen? Es war einmal, ja, aber es ist nicht mehr. Ich war einmal Kind. Einmal waren die Tage Märchenschlösser. Dann versanken sie in einen dunklen Wald, verschwanden, und wir ließen es geschehen. Wir lassen es geschehen. Lassen das Leben erstarren. Leben, wohin gehst du, wo bist du, Liebes?
Es ist noch jemand im Raum. Der Junge dreht sich um und blickt in die Augen einer schlanken Frau in dunkler, abgetragener Kleidung, Jacke und Rock, und einem braunen Kopftuch, das jedes Haar verhüllt. Abgesehen von diesem Braun ist keinerlei Farbe an ihr, bis auf die Blässe ihrer Haut und das Grün ihrer Augen.
Ich wollte sehen, ob du gestorben bist, sagt die Frau.
Wo ist Jens?, fragt der Junge und vermeidet es, in diese grünen Augen zu sehen.
Unten.
Hat er es bis nach unten geschafft?
Sonst wäre er wohl kaum da.
Die Kinder draußen rufen laut, und der Junge möchte etwas über Jens oder über die Kinder sagen oder irgendwas über diesen Tag, aber stattdessen rutscht ihm heraus: Du hast grüne Augen.
Du sollst nach unten kommen, zum Essen.
Heißt du vielleicht Álfheiður?
Ja, sagt Álfheiður. Sie hat Sommersprossen, die sich wie ein Sternengürtel quer über ihr Gesicht ziehen, über die Nase und über die Wangen.
Du hast Sommersprossen, sagt er, als würde er etwas Peinliches aussprechen. Als sie darauf nichts antwortet, fährt er fort: Warst du es, die mich geküsst hat?
Ich dachte, du lägest im Sterben.
Lag ich aber nicht, sagt er fast entschuldigend.
Macht nichts, sagt sie, und es ist nicht ganz klar, ob sich das auf den Kuss oder auf sein Überleben bezieht. Du sollst nach unten kommen, wiederholt sie und geht voraus.
Bei uns in Sléttueyri werden langsam die Vorräte knapp, sagt Steinunn.
Der Junge ist nach unten gekommen, und da sitzt Jens, vorgebeugt, abwesend, eine leere Kaffeetasse vor sich.
Es ist noch genügend da, nur die Auswahl ist etwas eingeschränkt. Iss, so viel du magst, Junge, an Milch fehlt es uns jedenfalls nicht, fährt Steinunn fort. Weder Ólafur noch Þórdís sind zu sehen. Þórdís hat draußen zu tun. Zum Haus des Arztes gehört ein Bauernhof mit zwei Kühen, dreißig Schafen und acht Hühnern. Das macht genügend Arbeit. Álfheiður deckt für den Jungen den Tisch, und einmal streift sie ihn dabei, Arm berührt Arm.
Die großen Ereignisse der Welt stehen auf den Titelseiten der Zeitungen: Noch immer Spannungen zwischen Japan und China, Japan hat kräftig aufgerüstet.
Die Weltbevölkerung beträgt eine Milliarde, 479 Millionen, 729-tausend und vierhundert Menschen.
In Sléttueyri, Island, berühren sich zwei Arme.
Sie hat rote Haare. Das
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