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Das Herz ihrer Tochter

Das Herz ihrer Tochter

Titel: Das Herz ihrer Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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wurde. Ich
stellte mir vor, wie ihm die Schlinge um den Hals gelegt und festgezogen wurde,
und spürte, wie sich mir die Nackenhaare sträubten.
    »Das ist brutal«, sagte ich leise und
legte Messer und Gabel hin.
    Christian schwieg einen Moment. »Ich war
Assistenzarzt in Philadelphia, als ich das erste Mal einer Mutter sagen musste,
dass ihr Kind gestorben war - ein achtjähriger Junge. Er war bloß zum Laden an
der Ecke gegangen, um Milch zu kaufen. Dabei war er zufällig in eine
Bandenschießerei geraten und von einer Kugel getroffen worden. Er war einfach
zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen. Nie werde ich den Ausdruck in den
Augen der Mutter vergessen, als ich ihr beibringen musste, dass wir ihren Sohn
nicht hatten retten können. Wenn ein Kind getötet wird, sterben zwei Menschen,
glaube ich. Mit dem einzigen Unterschied, dass das Herz seiner Mutter
weiterschlägt.« Er blickte mich an. »Es wird brutal sein für Mr Bourne. Aber
für June Nealon war es zuerst brutal.«
    Ich lehnte mich zurück. Da war er also,
der Haken. Du lernst einen gebildeten, ungemein attraktiven, charmanten Mann
mit Oxfordabschluss kennen, und schwups, entpuppt er sich als rechter
Reaktionär. »Dann befürworten Sie also die Todesstrafe?«, fragte ich mit bemüht
ruhiger Stimme.
    »Ich glaube, es ist leicht, sich auf ein
moralisches Podest zu stellen, wenn etwas rein theoretisch ist«, sagte
Christian. »Denke ich als Arzt, dass es richtig ist, einen Menschen
hinzurichten? Nein. Andererseits jedoch habe ich noch keine Kinder. Und ich
würde lügen, wenn ich behaupten würde, dass ich die Sache auch dann noch so
glasklar sehe, wenn ich mal Vater bin.«
    Ich hatte auch noch keine Kinder, und bei
dem Tempo, das ich vorlegte, würde ich wahrscheinlich nie welche haben. Bei dem
einzigen Mal, als ich June Nealon gesehen hatte - bei dem Täter-Opfer-Gespräch
-, konnte ich sie kaum ansehen, weil sie so voll selbstgerechter Wut gewesen
war. Ich wusste nicht, wie es sich anfühlte, ein Kind neun Monate lang unter
dem Herzen zu tragen, wie es sich anfühlte, wenn dein Körper sich dehnte,
damit dein Kind darin Platz hatte. Ich wusste nicht, wie es sich anfühlte,
einen Säugling auf dem Arm zu halten und in den Schlaf zu wiegen. Aber ich
wusste, wie es war, Tochter zu sein.
    Meine Mutter und ich hatten uns nicht
immer nur gestritten. Ich wollte als Kind genauso glamourös sein wie sie - ich
probierte ihre hochhackigen Schuhe an, zog mir ihre glänzenden Satinunterröcke
bis unter die Arme, als wären sie trägerlose Kleider, tauchte in das wundersame
Mysterium ihres Schminktäschchens. Irgendwann war sie für mich mal der Mensch
gewesen, der ich sein wollte, wenn ich groß war.
    Es war so verflucht schwer, in dieser
Welt Liebe zu finden, einen Menschen, der dir das Gefühl geben konnte, dass es
einen Grund gab, warum du hier auf Erden bist. Ein Kind, so stellte ich mir
vor, war die reinste Form dieser Liebe. Ein Kind war die Liebe, die du nicht
suchen mußtest, der du nichts beweisen mußtest, die zu verlieren du nicht fürchten
mußtest.
    Weshalb es, wenn es dann geschah, so
schrecklich wehtat.
    Plötzlich wollte ich meine Mutter
anrufen. Ich wollte June Nealon anrufen. Ich hatte meine erste Verabredung mit
einem Mann seit dem Aussterben der Dinosaurier, eine Verabredung, die eigentlich
bloß ein Geschäftsessen war, und ich wäre am liebsten in Tränen ausgebrochen.
    »Maggie?« Christian beugte sich vor.
»Alles in Ordnung?« Und dann legte er seine Hand auf meine.
    Die Spontanatmung kommt zum Stillstand, hatte er gesagt.
    Der Kellner kam an unseren Tisch. »Ich
hoffe, Sie haben noch Platz für ein Dessert.«
    Und ob ich noch Platz hatte. Meine
Vorspeise war ein Krabbenküchlein von der Größe meines Daumennagels gewesen.
Aber ich konnte die Wärme von Christians Haut an meiner spüren, und es fühlte
sich an wie die Hitze an der Spitze einer Kerze - es war nur noch eine Frage
der Zeit, bis auch der Rest von mir zerschmolz. »Oh, für mich nicht«, sagte
ich. »Ich bin ganz und gar satt.«
    »Tja dann«, sagte Christian und zog seine
Hand weg. »Bloß die Rechnung bitte.«
    Seine Miene hatte sich verändert - und
seine Stimme klang auf einmal so kühl. »Was ist?«, fragte ich. Er schüttelte
bloß den Kopf, als wäre nichts, doch ich wusste, was der Grund war: die
Todesstrafe. »Sie glauben, ich bin auf der falschen Seite.«
    »Ich glaube gar nicht, dass es Seiten
gibt«, sagte Christian, »aber egal, darum geht's nicht.«
    »Sie haben

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