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Das Herz ihrer Tochter

Das Herz ihrer Tochter

Titel: Das Herz ihrer Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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immer wieder die Verbände ab. Deshalb
mussten wir ihn fesseln.«
    »Wenn ich Ihnen verspreche, dass er damit
aufhört -«
    »Den Kopf gegen die Wand zu schlagen?«
    »Genau. Wenn ich Ihnen mein Wort gebe,
nehmen Sie ihm dann wenigstens die Handschellen ab?« Ich wandte mich an Shay,
der jeden Blickkontakt mit mir mied. »Shay?«, sagte ich. »Wie klingt das?«
    Er zeigte keinerlei Reaktion, und während
ich überlegte, wie ich Shay dazu bringen konnte, sich nicht mehr selbst zu
verletzen, ging der Aufseher in die Zelle und nahm ihm die Hand- und
Fußschellen ab. Die Bauchkette blieb jedoch, wo sie war. »Nur für alle Fälle«,
meinte er und ging.
    »Shay«, sagte ich. »Warum machen Sie
das?«
    »Hauen Sie ab.«
    »Ich weiß, dass Sie Angst haben. Und ich
weiß, dass Sie wütend sind«, sagte ich. »Ich geb Ihnen keine Schuld.«
    »Das ist ja ganz was Neues. Das haben Sie
nämlich mal. Sie und noch elf andere.« Shay trat einen Schritt näher. »Wie war
das denn damals, in dem Beratungsraum? Habt ihr euch darüber unterhalten, was
das für ein Unmensch sein muss, der so furchtbare Dinge tut? Ist euch
überhaupt mal der Gedanke gekommen, dass ihr nicht die ganze Geschichte kennt?«
    »Warum haben Sie sie dann nicht erzählt?«, platzte
ich heraus. »Von Ihnen haben wir nämlich kein Wort gehört. Die Staatsanwaltschaft
hat ihre Darstellung geliefert; June hat ausgesagt. Aber Sie sind nicht mal
aufgestanden, um uns um Strafmilderung zu bitten.«
    »Wer hätte mir denn schon geglaubt? Schließlich
hätte mein Wort gegen das eines toten Cops gestanden«, sagte er. »Nicht mal
mein Anwalt hat mir geglaubt. Er hat bloß davon geredet, mit meiner schwierigen
Kindheit mildernde Umstände rauszuschlagen - nicht mit meiner Version von dem,
was passiert ist. Er hat gesagt, ich sehe nicht so aus wie jemand, dem die
Geschworenen trauen würden. Dem war ich doch schnurzegal; dem ging es nur um
die Chance, fünf Sekunden in den Abendnachrichten zu kriegen. Er hatte eine Strategie. Und
wissen Sie, wie die aussah? Zuerst hat er den Geschworenen erzählt, dass ich es
nicht war. Dann, als es um das Strafmaß geht, sagt er: >Na schön, er war's,
aber aus folgendem Grund solltet ihr ihn nicht töten.< Da hätte ich ja
genauso gut zugeben können, dass es falsch war, auf nicht schuldig zu
plädieren.«
    Ich starrte ihn an. Damals während des
Prozesses war ich überhaupt nicht auf die Idee gekommen, dass Shay das alles
durch den Kopf gewirbelt war, dass er deshalb nicht aufgestanden und um ein
milderes Urteil gebeten hatte, weil er befürchtet hätte, damit auch die Schuld
an den Morden einzugestehen. Jetzt im Rückblick musste ich ihm recht geben, es
hatte tatsächlich so gewirkt, als hätte der Verteidiger zwischen Schuldspruch
und Strafmaßfestlegung eine Kehrtwende gemacht. Und das hatte es noch schwerer
gemacht, ihnen irgendwas zu glauben.
    Und Shay? Tja, der hatte bloß dagehockt,
mit seinen ungewaschenen Haaren und leeren Augen. Sein Schweigen - das ich als
Stolz oder Scham gedeutet hatte - war vielleicht nur aus der Einsicht
entstanden, dass die Welt für Leute wie ihn nicht so funktionierte, wie sie
sollte. Und ich, genau wie die elf anderen Geschworenen, hatte ihn bereits
verurteilt, ehe wir uns überhaupt auf einen Schuldspruch einigten.
Schließlich, wer wird denn schon wegen Doppelmordes angeklagt? Welcher Staatsanwalt
verlangt die Todesstrafe ohne triftigen Grund?
    Seit ich sein Seelsorger war, hatte er
mir gesagt, dass das, was in der Vergangenheit geschehen war, jetzt keine Rolle
mehr spielte, und ich hatte das so gedeutet, dass er keine Verantwortung für
seine Tat übernehmen wollte. Aber vielleicht bedeutete es ja, dass er wusste,
dass er trotz seiner Unschuld sterben würde.
    Ich war bei dem Prozess dabei gewesen;
ich hatte alle Zeugenaussagen gehört. Der Gedanke, Shay hätte die Todesstrafe
vielleicht nicht verdient, wäre lächerlich gewesen, abwegig.
    Andererseits galt das auch für Wunder.
    »Aber Shay«, sagte ich. »Ich habe die
Aussagen gehört. Ich habe gesehen, was Sie getan haben.«
    »Ich hab nichts getan.« Er senkte den
Kopf. »Ich war wegen des Werkzeugs zurückgekommen. Ich hatte es im Haus vergessen.
Es hat niemand aufgemacht, als ich an die Tür geklopft hab, also bin ich
einfach rein, um es zu holen... und da hab ich sie gesehen.«
    Mir drehte sich der Magen um. »Elizabeth.«
    »Wir haben immer so ein Spiel gespielt.
Wir haben uns gegenseitig angestarrt. Und wer zuerst lächeln musste,

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