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Das Herz ihrer Tochter

Das Herz ihrer Tochter

Titel: Das Herz ihrer Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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Besprechungsräumen und
auf die Krankenstation gebracht. Wenn er dann wiederkam, erzählte er mir von
Psychotests, die sie mit ihm gemacht hatten, davon, wie sie ihm in die
Armbeugen geklopft hatten, um seine Venen zu testen. Anscheinend wollten sie
auf Nummer sicher gehen vor dem großen Tag, damit sie nicht wie die Trottel
dastanden, wenn der Rest der Welt zusah.
    Der wahre Grund, weshalb sie Shay
andauernd zu irgendwelchen medizinischen Untersuchungen brachten, war
allerdings ein anderer: Er sollte nicht im Block sein, wenn sie ihre Trockenübungen
machten. Im August hatten sie schon damit angefangen. Einmal war ich im Hof,
als der Direktor eine kleine Gruppe Aufseher in den Vollstreckungsraum führte,
der noch im Bau war. Ich beobachtete sie mit ihren Schutzhelmen. »So, Leute«,
hatte Direktor Coyne gesagt, »heute wollen wir feststellen, wie lange die
Zeugen des Opfers von meinem Büro bis hierher brauchen. Sie dürfen auf keinen
Fall den Zeugen des Häftlings über den Weg laufen.«
    Jetzt, wo alles fertig war, hatten sie
noch mehr zu überprüfen: ob die Telefonleitung zum Büro des Gouverneurs
funktionierte, ob die Gurte an der Liege sicher waren. Schon zweimal war eine
Gruppe Aufseher da gewesen - ein Spezialteam, das sich freiwillig für den
Einsatz bei der Hinrichtung gemeldet hatte. Ich kannte keinen von ihnen. Ich
schätze, das machten sie aus humanen Gründen, damit der Typ, der dich tötet,
nicht derselbe ist, der dir in den letzten elf Jahren das Frühstück gebracht
hat. Und andersherum ist es für dich wahrscheinlich einfacher, den Kolben der
Giftspritze zu drücken, wenn du nicht schon mit dem Häftling darüber geplaudert
hast, ob die Patriots wieder Chancen haben, den Super Bowl zu gewinnen.
    Diesmal hatte Shay nicht auf die
Krankenstation gewollt. Er sträubte sich, sagte, er sei müde und er habe kein
Blut mehr, das sie ihm abnehmen könnten. Natürlich hatte er keine Wahl - die
Aufseher hätten ihn notfalls an Händen und Füßen rausgeschleift. Schließlich
ließ Shay sich widerstandslos fesseln und aus dem Block bringen. Er war kaum
fünfzehn Minuten weg, als das Spezialteam auftauchte. Einer der Aufseher, der
den Todeskandidaten spielte, wurde in Shays Zelle gebracht, und dann drückte
einer seiner Kollegen die Stoppuhr. »Los geht's«, sagte er.
    Ich habe ehrlich keine Ahnung, wie der
Fehler passieren konnte. Ich meine, bei so einer Trockenübung ging es ja gerade
darum, Spielraum für menschliche Fehler einzukalkulieren. Aber als das
Spezialteam den falschen Shay gerade hinauseskortierte, wurde der echte Shay
wieder hereingebracht. Einen Moment lang blieben beide an der Tür stehen und
starrten einander an.
    Shay glotzte sein Double an, bis Aufseher
Whitaker ihn regelrecht durch die Tür zerrte, und selbst dann reckte er noch
den Hals, um möglichst viel von dem zu sehen, was ihm bald bevorstand.
     
    Mitten in der Nacht kamen die Aufseher zu
Shay. Er hatte die ganze Zeit mit dem Kopf gegen die Wand geschlagen und unverständliches
Zeug vor sich hin geplappert. Normalerweise hätte ich das mitbekommen - ich
bemerkte häufig als Erster, wenn Shay die Fassung verlor -, aber ich hatte fest
geschlafen. Ich wurde wach, als die Aufseher, alle in Schutzmontur, ihn aus der
Zelle holten.
    »Wo bringt ihr ihn hin?«, rief ich, doch
die Worte zerschnitten mir die Kehle. Ich dachte an die Probeläufe und bekam
Angst, diesmal wäre es echt.
    Einer der Aufseher drehte sich zu mir um
- ein netter Typ, aber in dem Augenblick fiel mir sein Name nicht ein, obwohl
ich ihn seit sechs Jahren jede Woche sah. »Keine Sorge, Lucius«, sagte er. »Wir
bringen ihn bloß in die Beobachtungszelle, damit er sich nicht verletzt.«
    Als sie weg waren, legte ich mich aufs
Bett und drückte mir die flache Hand auf die Stirn. Fieber. Ein ganzer Schwarm
Piranhas schwamm durch meine Adern.
     
    Adam hatte mich vorher schon einmal
betrogen. Ich fand einen Zettel in seiner Tasche als ich Wäsche in die
Reinigung bringen wollte. Gary und eine Telefonnummer. Als ich ihn zur Rede stellte, sagte er, es sei
bloß ein One-Night-Stand gewesen, nach einer Vernissage in der Galerie, in der
er arbeitete. Gary war einer der Künstler gewesen, ein Mann, der Miniaturstädte
aus Gips erschuf. Die aktuelle Ausstellung zeigte New York. Er erzählte mir
von der Art-deco-Spitze des Chrysler-Gebäudes; von den einzelnen Blättern, die
in Handarbeit an den Bäumen auf der Gipsausgabe der Park Avenue befestigt
worden waren. Ich stellte mir vor,

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