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Das Herz ihrer Tochter

Das Herz ihrer Tochter

Titel: Das Herz ihrer Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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hatte
verloren. Ich hab sie jedes Mal zum Lächeln gebracht, und einmal hat sie,
während wir uns anstarrten, meinen Schraubenzieher genommen - ich hatte es gar
nicht gemerkt - und damit rumgefuchtelt, wie eine Wahnsinnige mit einem Messer.
Ich musste laut lachen. Ich
hab gewonnen, hat sie gesagt. Ich hab gewonnen. Ja,
das hatte sie - vor allem mein Herz, hundertprozentig.« Sein Gesicht verzog
sich. »Ich hätte ihr nie wehtun können. Als ich an dem Tag zurückkam und ins
Haus ging, da war sie bei ihm. Seine Hose war offen. Und sie - sie hat geweint... dabei war er doch
ihr Vater.« Er warf sich einen Arm über das Gesicht, als müsste er so die
Erinnerung nicht mehr sehen. »Sie sah mich an, als würden wir unser Spiel
spielen, und dann lächelte sie. Aber diesmal nicht, weil sie verloren hatte,
sondern weil sie wusste, dass sie gewinnen würde. Weil ich da war. Weil ich sie
retten konnte. Mein ganzes Leben lang haben die Leute mich angesehen wie einen
Versager, als könnte ich nichts richtig machen - aber sie, sie hat an mich
geglaubt, das konnte ich sehen«, sagte Shay. »Und ich wollte ihr glauben -
Gott, ich wollte ihr glauben.«
    Er holte tief Luft. »Ich hab sie gepackt
und bin mit ihr nach oben gelaufen, in das Zimmer, an dem ich noch gearbeitet
hab.
    Ich hab die Tür abgeschlossen. Ich hab
ihr gesagt, hier wären wir sicher. Aber dann fiel ein Schubs, und das ganze
Schloss war verschwunden, und er ist reingekommen und hat mit seiner Pistole
auf mich gezielt.«
    Ich versuchte, mir vorzustellen, wie es
wäre, Shay zu sein - einer, der so leicht zu verwirren war und sich manchmal so
unsicher war - und plötzlich in eine Pistolenmündung zu blicken.
    Da hätte ich auch Panik gekriegt.
    »Dann hab ich Sirenen gehört«, sagte
Shay. »Er hatte seine Kollegen gerufen. Er hat gesagt, sie kämen meinetwegen,
und kein Cop würde einem Typen wie mir glauben. Sie hat geschrieen. >Nicht
schießen, nicht schießen.< Er hat gesagt: >Komm her, Elizabeths und da
hab ich die Pistole gepackt, damit er ihr nicht wehtut, und wir haben gekämpft
und hatten beide die Hände an der Waffe, und plötzlich fiel ein Schubs und dann
noch einer.« Er schluckte. »Ich habe sie aufgefangen. Das Blut, überall war
Blut, an mir, an ihr. Er hat immer wieder ihren Namen gerufen, aber sie hat ihn
nicht angesehen. Sie hat mich angestarrt, als würden wir unser Spiel spielen.
Sie hat mich angestarrt, bloß es war kein Spiel... und dann hat sie aufgehört
zu starren, obwohl ihre Augen offen waren. Und es war vorbei, obwohl ich nicht
gelächelt habe.« Er würgte an einem Schluchzer, preßte sich eine Hand auf den
Mund. »Ich hab nicht gelächelt.«
    »Shay«, sagte ich sanft.
    Er blickte auf. »Sie war tot besser
dran.«
    Meine Kehle schnürte sich zu. Ich
erinnerte mich, dass Shay dieselben Worte bei dem Täter-Opfer-Gespräch zu June
gesagt hatte, worauf sie weinend aus dem Raum gestürzt war. Aber was, wenn wir
Shays Worte mißverstanden hatten, weil wir den Zusammenhang nicht kannten?
Was, wenn er Elizabeth' Tod tatsächlich für einen Segen hielt, nach dem, was
sie durch ihren Stiefvater alles hatte erleiden müssen?
    Etwas regte sich bei mir im Hinterkopf,
ein Erinnerungsfetzen. »Elizabeth' Unterhose«, sagte ich. »Sie steckte in Ihrer
Tasche.«
    Shay blickte mich an, als wäre ich ein
Idiot. »Na, weil sie keine Zeit mehr hatte, sie wieder anzuziehen, es ging doch
alles so schnell.«
    Der Shay, den ich kennengelernt hatte,
war ein Mann, der eine offene Wunde mit einer Handberührung schließen konnte,
aber auch einen Nervenzusammenbruch bekam, wenn der Kartoffelbrei auf seinem
Metalltablett gelber war als am Tag davor. Dieser Shay wäre gar nicht auf die
Idee gekommen, dass er sich erst recht verdächtig machen würde, wenn die
Polizei die Unterwäsche eines kleinen Mädchens in seiner Tasche fände; für ihn
wäre es ganz logisch gewesen, rasch nach der Unterhose zu greifen, als er
Elizabeth ihrem Stiefvater entriß, damit sie sich bedecken konnte.
    »Wollen Sie damit sagen, die Schüsse sind
aus Versehen losgegangen?«
    »Ich habe nie gesagt, ich bin schuldig«,
antwortete er.
    Die Schlaumeier, die Shays Wunder
herunterspielten, wiesen stets gern darauf hin, dass Gott sich nicht die
Gestalt eines Mörders aussuchen würde, wenn er noch einmal auf die Erde kommen
sollte. Aber was, wenn er das Verbrechen gar nicht begangen hatte? Was, wenn
Shay Elizabeth und Kurt Nealon gar nicht gezielt und vorsätzlich getötet hatte
- sondern in

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