Das Herz ihrer Tochter
der
Strafvollzugsbehörde waren uns Verhaltensregeln erteilt worden: Beschimpfungen
oder unangemessene Handlungen hätten zur Folge, dass wir aus dem Zelt entfernt
würden. Neben mir betete Father Michael einen Rosenkranz. Auf meiner anderen
Seite saß Rufus Urqhart, mein Boss.
Ich bekam einen Schrecken, als ich June
Nealon erblickte, die reglos in der ersten Reihe uns gegenübersaß. Ich hatte
angenommen, sie wäre bei Ciaire, zumal Ciaire ja jetzt auf die Herztransplantation
vorbereitet wurde. Als sie angerufen hatte, um mir zu sagen, dass sie Shays
Herz nun doch wolle, hatte ich keine Fragen gestellt, um sie nicht zu
verunsichern. Jetzt wünschte ich, ich könnte zu ihr gehen und sie fragen, ob
Ciaire stabil war, ob alles nach Plan lief, aber vielleicht hätten die Aufseher
dann gedacht, ich würde ihr Vorwürfe machen, und im Grunde hatte ich auch Angst
vor ihren Antworten.
Irgendwo hinter dem Vorhang überprüfte
Christian noch einmal, ob Seil und Schlinge die Voraussetzungen erfüllten, um
eine möglichst humane Hinrichtung zu garantieren. Ich wusste, das sollte mir
ein Trost sein, aber ehrlich gesagt, ich hatte mich noch nie in meinem Leben so
allein gefühlt.
Es war schwer, mir einzugestehen, dass
ich freundschaftliche Gefühle für jemanden empfand, der wegen Mordes verurteilt
worden war. Anwälte sollten sich eigentlich davor hüten, eine emotionale und
persönliche Bindung an ihre Mandanten zu entwickeln - aber es passierte
trotzdem.
Um Punkt zehn öffneten sich die Vorhänge.
Shay wirkte sehr klein auf der Plattform
des Galgens. Er trug ein weißes T-Shirt, eine orangefarbene Gefängnishose und
Tennisschuhe und wurde von zwei Aufsehern flankiert, die ich nie zuvor gesehen
hatte. Seine Arme waren auf dem Rücken gefesselt, und die Beine hatte man ihm
mit einem Lederriemen zusammengebunden.
Er zitterte am ganzen Körper.
Commissioner Lynch kam auf die Plattform.
»Ein Vollstreckungsaufschub wurde nicht angeordnet«, verkündete er.
Ich dachte daran, wie Christians Hände
gleich den Knoten an Shays Hals überprüfen würden. Ich kannte die Gnade seiner
Berührung und war froh, dass Shays letzter körperlicher Kontakt mit einem
Menschen sanft sein würde.
Der Direktor betrat die Plattform, als
Lynch sie verließ, und er las die gesamte Vollstreckungsanordnung vor. Ich
blendete die Worte immer wieder aus:
... Wonach Isaiah Matthew Bourne am
sechsten März 1997 wegen Mordes in zwei Fällen für schuldig...
... beraumte das Gericht die
Vollstreckung des Urteils für Freitag, den dreiundzwanzigsten Mai 2008, zehn
Uhr, an...
... erfolgt die Exekution durch den
Strang in der Weise, dass bei besagtem Isaiah Matthew Bourne der Hirntod
eintritt...
Als der Direktor fertig war, wandte er
sich an Shay. »Häftling Bourne, möchten Sie noch etwas sagen?«
Shay blinzelte, bis er mich in der ersten
Reihe entdeckte. Sein Blick ruhte lange auf mir und glitt dann weiter zu Father
Michael. Schließlich jedoch wandte Shay sich der Seite des Zeltes zu, wo die
Zeugen der Opferpartei saßen, und lächelte June Nealon an. »Ich vergebe euch«,
sagte er.
Sofort danach wurde der Vorhang
zugezogen. Er reichte nur bis zur Plattform des Galgens, und er war
durchscheinend weiß. Ich wusste nicht, ob das Absicht war, ob der Direktor
wollte, dass wir mitbekamen, was dahinter geschah, aber wir konnten es sehen,
als makabres Schattenspiel: wie die zwei Aufseher Shay die Kapuze überstülpten,
ihm die Schlinge am Hals festzogen und dann zurücktraten.
»Adieu«, flüsterte ich.
Irgendwo knallte eine Tür, und plötzlich
war die Falltür offen, und der Körper sackte nach unten, und dann ein Geräusch
wie von einem Knallfrosch, als das Gewicht vom Ende des Seils abgefangen
wurde. Shay drehte sich langsam gegen den Uhrzeigersinn mit der
unwahrscheinlichen Anmut einer Ballerina, eines im Wind segelnden
Herbstblattes, einer schwebenden Schneeflocke.
Ich spürte Father Michaels Hand auf
meiner. Sie vermittelte mir das, wofür es keine Worte gab. »Es ist vorbei«,
flüsterte er.
Ich weiß nicht, warum ich mich nach June
Nealon umdrehte, aber ich tat es. Die Frau saß stocksteif da, die Hände so fest
auf dem Schoß gefaltet, dass sich die Nägel in die Haut bohrten. Die Augen
hatte sie fest zusammengepreßt.
Nach all dem hatte sie ihn nicht mal
sterben sehen.
Der untere Vorhang schloss sich, drei
Minuten und zehn Sekunden nachdem Shay gehängt worden war. Er war
undurchsichtig, damit wir nicht sahen, was dahinter passierte
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