Das Herz ihrer Tochter
die Wärme meines Körpers ihn erreichte.
»Wieso ... ist das so ... kalt?«,
flüsterte Shay.
Ich schüttelte den Kopf. »Versuchen Sie,
nicht daran zu denken.«
Versuchen Sie, nicht daran zu denken,
dass es eisig kalt ist in dieser Zelle. Versuchen Sie, nicht daran zu denken,
dass gleich dahinter ein Galgen steht, an dem Sie morgen baumeln werden.
Versuchen Sie, nicht an das Gesichtermeer
zu denken, das Sie sehen werden, wenn Sie da oben stehen, daran, welche letzten
Worte Sie sprechen werden, daran, dass Sie Ihre eigenen Worte nicht verstehen
werden, weil Ihr Herz vor Angst so laut pocht. Versuchen Sie, nicht daran zu
denken, dass Ihnen kurz danach genau dieses Herz aus der Brust geschnitten
wird.
Eine Weile zuvor war Alma da gewesen, um
Shay Valium anzubieten. Er hatte abgelehnt - doch jetzt bedauerte ich es, dass
ich mir nicht welches hatte geben lassen, für ihn.
Nach ein paar Minuten zitterte Shay nicht
mehr so stark - nur ab und zu durchlief ihn ein Beben. »Ich will da oben nicht
anfangen zu heulen«, gestand er. »Ich will nicht schwach wirken.«
Ich wandte mich ihm zu. »Sie sitzen seit
elf Jahren in der Todeszelle. Sie haben sich das Recht erkämpft, nach Ihren
eigenen Bedingungen zu sterben. Selbst wenn Sie morgen da hochk riechen müßten - kein Mensch
würde Sie für schwach halten.«
»Sind sie noch alle da draußen?«
Ja, all die vielen Menschen da draußen
waren noch da, und es kamen immer mehr. Am Ende, und das hier war das Ende,
spielte es keine Rolle, ob Shay wirklich der Messias war oder nicht oder bloß
ein guter Schauspieler. Was zählte, war, dass all diese Menschen jemanden
hatten, an den sie glauben konnten.
Shay blickte mich an. »Ich muss Sie um
einen Gefallen bitten.«
»Jeden.«
»Passen Sie auf Grace auf.«
Ich hatte schon damit gerechnet, dass er
mich darum bitten würde; eine Hinrichtung schweißte Menschen auf irgendeine
Weise zusammen. Ich würde für alle Zeit mit den Beteiligten verbunden sein.
»Mach ich.«
»Und Sie sollen alle meine Sachen haben.«
Ich konnte mir nicht vorstellen, was er
damit meinte - sein Werkzeug vielleicht, von seiner Arbeit als Zimmermann?
»Danke, das ist nett.« Ich zog die Decke ein Stückchen höher. »Shay, wegen der
Beerdigung.«
»Das ist nicht wichtig.«
Ich hatte versucht, ihm einen Platz auf
dem Friedhof von St. Catherine zu besorgen, aber der zuständige Gemeindeausschuss
war dagegen gewesen - sie wollten nicht, dass ein Mörder seine letzte
Ruhestätte mitten unter ihren lieben Verstorbenen fand. Gräber und Bestattungen
auf städtischen Friedhöfen kosteten eine Stange Geld - zu viel für Grace oder
Maggie oder mich. Ein Häftling, der keine Angehörigen hatte, die sich um seine
Beisetzung kümmerten, wurde auf einem kleinen Friedhof hinter dem Gefängnis
begraben, mit einem Grabstein, auf dem seine Insassennummer eingemeißelt war,
nicht sein Name.
»In drei Tagen«, sagte Shay gähnend.
»In drei Tagen?«
Er lächelte mich an, und zum ersten Mal
seit Stunden wurde mir durch und durch warm. »Dann komme ich wieder.«
Um neun Uhr am Morgen von Shays
Hinrichtung wurde aus der Küche ein Tablett gebracht. Irgendwann im Laufe der
Nacht hatte der Frost den Zement aufgebrochen, der für das Fundament der Zelle
gegossen worden war. Vom Hof darunter sprossen Gräser in Büscheln hervor, und
Kletterpflanzen rankten an der Metalltür hoch. Shay zog Schuhe und Socken aus
und spazierte barfuß über das neue Gras, ein breites Lächeln im Gesicht.
Ich war wieder nach draußen auf meinen
Hocker umgezogen, damit Shays Aufpasser keinen Ärger bekam, doch als sein Kollege
mit dem Frühstück erschien und einen Blick in die Zelle warf, stutzte er. »Wer
hat denn die ganzen Pflanzen gebracht?«
»Niemand«, sagte Shays Aufpasser. »Die
waren heute Morgen einfach da.«
Der andere runzelte die Stirn. »Das muss
ich dem Direktor melden.«
»Tu, was du nicht lassen kannst«, sagte
der Erste. »Der Direktor hat ja im Moment weiß Gott keine anderen Sorgen.«
Der andere reichte das Tablett durch die
Klappe in der Zellentür. Shay staunte nicht schlecht, als er sah, was ihm
serviert wurde.
Schokoküsse. Hotdogs. Hähnchennuggets.
Popcorn und Zuckerwatte, ein Bratapfel.
Pommes, Eiscreme mit einer Krone aus
Maraschinokirschen. Waffeln mit Puderzucker. Eine Dose Cola.
Es war viel zu viel für einen allein. Und
es waren alles Leckereien, die es auf einer Kirmes gab. Leckereien, die jeder
aus der Kindheit kannte.
Wenn man, anders als
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