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Das Herz ihrer Tochter

Das Herz ihrer Tochter

Titel: Das Herz ihrer Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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leid«, sagte er, »aber Ihre
Zeit ist um.«
    Im selben Moment erfüllte der Klang von
Dudelsäcken das Zelt, begleitet von einem Stimmencrescendo. Die Leute draußen,
die die Mahnwache hielten, hatten begonnen zu singen:
     
    Amazing Grace, how sweet the sound... That saved a
wretch like me. I once was lost, but now I'm found. Was blind, but now I see.
     
    Ich wusste nicht, ob Shay wirklich eines
Mordes schuldig war oder unschuldig und mißverstanden. Ich wusste nicht, ob er
der Messias war oder ein Idiot savant, der Texte channelte, die er nie gelesen
hatte. Ich wusste nicht, ob wir gerade Geschichte machten oder sie bloß neu
erlebten. Aber ich wusste, was ich tun musste: Ich bedeutete Shay, näher zu
treten, schloss die Augen und machte das Kreuzzeichen auf seiner Stirn.
»Allmächtiger Gott«, murmelte ich, »schau auf deinen Diener hier, der daniederliegt
in großer Schwäche, und tröste ihn mit der Verheißung des ewigen Lebens, das
ihm zuteil wird in der Auferstehung deines Sohnes Jesus Christus, unseres
Herrn. Amen.«
    Ich öffnete die Augen und sah, dass Shay
lächelte. »Wir sehen uns, Father Michael«, sagte er.
     
    MAGGIE
     
    Kaum hatte ich mich von Shay
verabschiedet, stürzte ich zum Zirkuszelt hinaus - wie passend, denn es war
weiß Gott ein Zirkus - und übergab mich auf dem Gras im Gefängnishof.
    »He«, sagte eine Stimme, »geht's wieder?«
Ich spürte, wie eine Hand mich stützte, und als ich in das flirrende
Sonnenlicht blickte, erkannte ich Direktor Coyne, der offenbar genauso unglücklich
war, mich zu sehen, wie umgekehrt.
    »Kommen Sie«, sagte er. »Sie brauchen ein
Glas Wasser.«
    Er führte mich durch einen dunklen,
trostlosen Korridor - Korridore, dachte ich, paßten bei Weitem besser zu einer Hinrichtung
als der wunderschöne Frühlingstag draußen, mit dem strahlend blauen Himmel und
den Federwölkchen. In der leeren Cafeteria schob er mich auf einen Stuhl, ging
dann zum Wasserspender, um mir etwas zu trinken zu holen. Ich leerte den
ganzen Becher, der bittere Geschmack in meiner Kehle aber blieb.
    »Tut mir leid«, sagte ich. »Ich wollte
Ihnen nicht derart plastisch vor Augen führen, wie sehr ich die ganze
Veranstaltung hier zum Kotzen finde.«
    Er nahm auf dem Stuhl neben mir Platz.
»Hören Sie, Ms Bloom, es gibt da so einiges, was Sie nicht über mich wissen.«
    »Und auch nicht wissen will«, sagte ich
und stand auf.
    »Zum Beispiel«, fuhr Direktor Coyne
unverdrossen fort, »dass ich die Todesstrafe nicht gutheiße.«
    Ich starrte ihn an, klappte den Mund zu und
sank zurück auf meinen Stuhl.
    »Früher schon, verstehen Sie mich nicht
falsch. Und ich vollstrecke eine Hinrichtung, wenn ich es muss, weil es zu
meinen Aufgaben gehört. Aber das heißt nicht, dass ich es befürworte«, sagte
er. »Ehrlich gesagt, ich habe hier etliche Häftlinge, für die eine lebenslange
Gefängnisstrafe genauso gute Dienste tut. Und ich habe Häftlinge, denen ich die
Todesstrafe gewünscht hätte - manche Menschen sind einfach von Grund auf
schlecht. Aber ich möchte mir nicht anmaßen zu entscheiden, ob einer für die
Ermordung eines Kindes getötet werden soll... und nicht für die Ermordung eines
Drogensüchtigen bei einem schiefgegangenen Deal... oder auch nur, ob wir
überhaupt jemanden töten sollten. Ich bin nicht klug genug, um sagen zu können,
welches Leben mehr wert ist als das andere. Und ich bezweifle, dass überhaupt
jemand so klug sein kann.«
    »Wenn Sie wissen, dass es nicht gerecht
ist, und es trotzdem tun, wie können Sie dann nachts schlafen?«
    Direktor Coyne lächelte traurig. »Gar
nicht, Ms Bloom. Der Unterschied zwischen Ihnen und mir ist der, dass Sie von
mir denken, ich könnte es.« Er stand auf. »Ich nehme an, Sie wissen, was Sie
nun zu tun haben?«
    Ich sollte zusammen mit Father Michael an
der Information warten, sodass wir getrennt von den Zeugen der Staatsanwaltschaft
und des Opfers ins Zelt geführt werden konnten. Aber irgendwie wusste ich, dass
Direktor Coyne das nicht gemeint hatte.
    Und was mich noch mehr erstaunte ... ich
glaube, er wusste, dass ich es wusste.
     
    Das Zirkuszelt war innen mit einem blauen
Himmel bemalt. Künstliche Wolken schwebten über dem schwarzen Eisengalgen. Ich
fragte mich, ob Shay nach oben schauen und sich vorstellen würde, er wäre im
Freien.
    Das Zelt selbst wurde durch eine Phalanx
von Vollstreckungsbeamten unterteilt, die die Zeugen beider Parteien
voneinander abschotteten wie ein menschlicher Damm. In dem Schreiben von

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