Das Herz ihrer Tochter
wusste, wie das lief: Sie würden
seine Kleidungsstücke nach verbotenen Sachen durchsuchen, ihm dann sagen, er
solle sich wieder anziehen, und ihn zur Krankenstation außerhalb des
Sicherheitstraktes bringen.
Eine Stunde später wurde ich wach, als
Shays Zellentür aufging und er zurückgebracht wurde. »Ich bete für deine
Seele«, sagte Aufseher Whitaker ernst, ehe er wieder ging.
»Und?«, fragte ich mit einer Stimme, die
zu hell und künstlich klang, um selbst mir etwas vorzumachen. »Bist du
kerngesund?«
»Sie haben mich nicht zur Krankenstation
gebracht. Wir waren beim Direktor.«
Ich setzte mich auf und blickte hoch zu
den Lüftungsschlitzen, durch die Shays Stimme zu mir drang. »Dann hat er dich
endlich -«
»Weißt du, warum sie lügen?«, fiel Shay
mir ins Wort. »Weil sie Angst haben, du drehst durch, wenn sie dir die Wahrheit
sagen.“
»Was für eine Wahrheit?«
»Das ist alles Gedankenkontrolle. Und uns
bleibt nichts anderes übrig, als zu gehorchen, weil, es könnte ja sein, dass
es diesmal wirklich -«
»Shay«, sagte ich, »hast du mit dem
Direktor gesprochen oder nicht?«
»Er hat mit mir gesprochen. Er hat gesagt, das Oberste Bundesgericht hat meine letzte
Berufung abgelehnt«, sagte Shay. »Meine Hinrichtung ist für den
dreiundzwanzigsten Mai angesetzt.«
Ich wusste, dass Shay seit elf Jahren in
der Todeszelle saß, so überraschend konnte die Nachricht für ihn also nicht
sein. Und dennoch, bis zu dem Datum waren es nur noch zweieinhalb Monate.
»Ich schätze, sie wollen nicht einfach
reinkommen und sagen, he, wir bringen dich jetzt zur Verlesung deines
Hinrichtungsbefehls. Ich meine, es ist einfacher, so zu tun, als wollten sie
dich zur Krankenstation bringen, damit du nicht ausflippst. Ich wette, sie
haben das vorher alles besprochen. Ich wette, sie hatten eine Konferenz.«
Ich fragte mich, was mir lieber wäre,
wenn es um meinen Tod ginge, der angekündigt würde wie die Abfahrt eines Zuges. Würde
ich die Wahrheit von einem Aufseher erfahren wollen? Oder würde ich es für eine
gütige Geste halten, wenn mir ein wenig Aufschub gewährt würde, wenn auch nur
für die vier Minuten, die der Gang bis ins Büro des Direktors dauerte?
Ich wusste, wie die Antwort für mich
lautete.
Ich fragte mich, warum ich bei dem
Gedanken an Shay Bournes Hinrichtung einen Kloß im Hals spürte, wo ich ihn doch
erst seit zwei Wochen kannte. »Tut mir echt leid.«
»Ja«, sagte er. »Ja.«
»Po-li-zei«, rief Joey, und einen Moment
später kamen Smythe und Whitaker, um Crash zum Duschen zu bringen. Nachdem die
Untersuchung unseres bacchantischen Leitungswassers offenbar nichts
Aufregenderes ergeben hatte als irgendeinen Pilzbefall in den Leitungen, wurde
uns wieder die übliche Körperpflege gewährt. Aber als sich die Aufseher
anschließend zum Gehen wandten, drehte Smythe sich noch einmal um und ging zu
Shays Zelle.
»Hör mal«, sagte Smythe. »Letzte Woche
hast du was zu mir gesagt.«
»Hab ich das?«
»Du hast gesagt, ich soll nachsehen, was
drin ist.« Er zögerte. »Meine Tochter ist krank. Schwer krank. Gestern haben
die Ärzte meiner Frau und mir gesagt, wie müßten Abschied von ihr nehmen. Ich
hatte das Gefühl, ich explodiere. Da hab ich den Stoffbären gepackt, den sie
bei sich im Bett liegen hatte - sie hatte ihn mitnehmen dürfen, als sie ins
Krankenhaus musste —, und hab ihn aufgerissen. Er war vollgestopft mit Fasern von
Erdnussschalen, und wir wären nicht im Traum auf die Idee gekommen, da
nachzuschauen.« Smythe schüttelte den Kopf. »Meine Kleine wird nicht sterben,
sie ist nicht mal richtig krank. Sie ist bloß schwer allergisch«, sagte er.
»Woher wußtest du das?“
»Ich hab nicht -«
»Egal.« Smythe griff in seine Tasche und
förderte etwas zutage, das in Alufolie eingewickelt war, und als er es
auspackte, kam ein dicker Brownie-Keks zum Vorschein. »Die backt meine Frau
immer. Ich soll ihn dir geben, hat sie gesagt.«
»John, du kannst doch hier nichts
reinschmuggeln«, sagte Whitaker und blickte nach hinten zum Kontrollraum.
»Was heißt denn reinschmuggeln. Ich geb
ihm bloß was ... von meinem Lunch ab.«
Mir lief das Wasser im Munde zusammen.
Brownies standen nicht auf unserer Speisekarte. Das Höchste der Gefühle war ein
Stück Schokoladenkuchen zu Weihnachten.
Smythe reichte ihm den Brownie durch die
Klappe in der Zellentür. Er blickte Shay in die Augen und nickte, dann verließ
er mit Aufseher Whitaker den Block.
»Hey, Todeskandidat«, sagte
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