Das Herz ihrer Tochter
er zu dem
Sanitäter, der auf uns zukam. Eine kleine Gestalt lag auf einer Trage,
zugedeckt mit einer dicken grauen Wolldecke. Ich streckte die Hand aus und zog
zitternd die Decke weg. Sobald ich Elizabeth sah, gaben meine Beine nach, und
ich wäre gestürzt, wenn Irv mich nicht aufgefangen hätte.
Sie sah aus, als würde sie schlafen. Ihre
Hände lagen rechts und links dicht am Körper, ihre Wangen waren gerötet.
Sie hatten sich geirrt, ganz bestimmt.
Ich beugte mich über die Trage, berührte
ihr Gesicht. Ihre Haut war noch warm. »Elizabeth«, flüsterte ich, so wie jeden
Morgen, wenn ich sie zur Schule weckte. »Elizabeth, aufstehen.«
Aber sie rührte sich nicht, sie hörte
mich nicht. Ich brach über ihrem Körper zusammen, zog sie an mich. Das Blut auf
ihrer Brust war grellrot. Ich wollte sie enger an mich drücken, aber es ging
nicht - das Baby in mir war im Weg. »Geh nicht«, flüsterte ich. »Bitte geh
nicht.«
»June«, sagte Irv und berührte mich an
der Schulter. »Sie können mit ins Krankenhaus fahren, wenn Sie möchten, aber
Sie müssen sie jetzt hinlegen.«
Ich verstand die Eile nicht, erst später
sollte ich erfahren, dass nur ein Arzt Elizabeth für tot erklären konnte, so
offensichtlich es auch war.
Die Sanitäter schnallten Elizabeth
vorsichtig an der Trage fest und boten mir einen Sitzplatz daneben an. »Moment
noch«, sagte ich und nahm eine Spange aus meinem Haar. »Sie mag es nicht, wenn
ihr der Pony in die Augen fällt«, murmelte ich und steckte die Strähnen fest.
Einen Augenblick lang ließ ich meine Hand auf ihrer Stirn liegen, eine Segnung.
Auf der nicht enden wollenden Fahrt zum
Krankenhaus blickte ich nach unten auf meine Bluse. Sie war mit Blut befleckt,
ein Rorschachbild des Verlustes. Aber nicht nur ich war gezeichnet, für immer
verändert. Es war keine Überraschung, als ich Ciaire einen Monat später zur
Welt brachte, ein Baby, das noch auf dem letzten Ultraschallfoto so große
Ähnlichkeit mit seinem Vater gehabt hatte - und auf einmal war sie ihrer
Schwester, die sie nie kennenlernen würde, wie aus dem Gesicht geschnitten.
MAGGIE
Oliver und ich gönnten uns gerade ein
Glas Chardonnay und eine Folge von Grey's
Anatomy, als es an der Tür klingelte,
was beunruhigend war, denn es war nach zehn Uhr am Freitagabend, und mein
Pyjama hatte ein Loch am Hintern.
Ich sah das Kaninchen an. »Wir machen
nicht auf«, sagte ich, doch Oliver sprang bereits von meinem Schoß und hoppelte
zur Tür, wo er unten am Spalt herumschnupperte.
»Maggie?«, hörte ich. »Ich weiß, dass du
da bist.«
»Daddy?« Ich stand von der Couch auf und
ließ ihn herein. »Seid ihr nicht im Gottesdienst?«
Er zog seinen Mantel aus und hängte ihn
an einen antiquierten riesigen Garderobenständer, den meine Mutter mir mal zum
Geburtstag geschenkt hatte. »Das Wichtigste hab ich abgewartet. Deine Mutter
wollte noch etwas mit Carol plaudern. Wahrscheinlich bin ich vor ihr zu
Hause.«
Carol war die Kantorin - eine Frau mit
einer Stimme, die mich an verdöste Stunden in der Sommersonne denken ließ:
voll, ruhig, ungemein entspannend. Wenn sie nicht sang, sammelte sie
Fingerhüte. Sie flog bis nach Seattle zu Tauschbörsen und hatte sich eine ganze
Wand in ihrem Haus mit Vitrinen ausstatten lassen, um ihre Minikostbarkeiten
auszustellen. Mom meinte, Carol habe über fünftausend Fingerhüte. Ich hatte von
gar nichts fünftausend, außer vielleicht Kalorien am Tag.
Er ging ins Wohnzimmer und warf einen
Blick auf den Fernseher. »Ich wünschte, die magere Kleine würde diesen McDreamy
endlich in die Wüste schicken.«
»Du guckst Grey's Anatomy?«
»Deine Mutter guckt es. Ich absorbiere es
per Osmose.« Er setzte sich auf die Couch, während ich ins Grübeln kam, weil
ich offenbar doch was mit meiner Mutter gemein hatte.
»Ich fand deinen Freund, den Priester,
nett«, sagte mein Vater.
»Er ist nicht mein Freund. Wir arbeiten
zusammen.«
»Trotzdem kann ich ihn doch nett finden,
oder?«
Ich zuckte mit den Achseln. »Du bist doch
bestimmt nicht den ganzen Weg hergekommen, um mir zu sagen, was Father Michael
für ein netter Bursche ist.«
»Na ja, teilweise. Wie kommt es, dass du
ihn heute Abend mitgebracht hast?«
»Wieso?«, fragte ich gereizt. »Hat Mom
sich beschwert?«
»Hörst du bitte mal auf mit deiner
Mom-Paranoia?«, sagte mein Vater mit einem Seufzer. »Ich hab dich was gefragt.«
»Er hatte einen schweren Tag. Auf Shays
Seite zu stehen ist nicht leicht für ihn.«
Mein
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