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Das Herz ihrer Tochter

Das Herz ihrer Tochter

Titel: Das Herz ihrer Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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ich mich übergeben.
    Wenn jemand ein Dutzend Leute auf der
Straße fragen würde, ob sie schon mal etwas von den gnostischen Evangelien
gehört haben, würden elf von ihnen gucken, als hätte man sie nach ihren
Kenntnissen über Außerirdische gefragt. Die meisten Menschen heutzutage können
nicht mal die Zehn Gebote aufzählen. Shay Bourne hatte nur minimale und
bruchstückhafte Kenntnisse in Religion. Das Einzige, was ich ihn je »lesen« gesehen
hatte, war die Bademodenausgabe der Zeitschrift Sports Illustrated. Er
konnte nicht richtig schreiben; er konnte kaum einem Gedanken bis zum Ende des
Satzes folgen. Seine Schulausbildung erschöpfte sich in einem mit Ach und
Krach bestandenen Highschoolabschluss, den er in der Jugendstrafanstalt
nachgemacht hatte.
    Wie war es also möglich, dass Shay Bourne
Verse des Thomasevangeliums auswendig konnte? Wo oder wann in seinem Leben
konnte er damit in Berührung gekommen sein?
    Eigentlich gar nicht, war die einzige
Antwort, die mir einfiel.
    Vielleicht war es Zufall.
    Vielleicht hatte ich unsere Gespräche
falsch in Erinnerung.
    Vielleicht - vielleicht - hatte
ich mich in ihm getäuscht.
    In den letzten drei Wochen hatte ich
mich, wenn ich Shay besuchte, durch Scharen von Menschen drängen müssen, die
vor dem Gefängnis kampierten. Ich hatte den Fernseher ausgemacht, wenn wieder
irgendein Experte spekulierte, Shay könne der Messias sein. Schließlich wusste
ich es besser. Ich war Priester. Ich hatte ein Gelübde abgelegt. Für mich stand
fest, dass es einen Gott gab. Seine Botschaft stand in der Bibel, und vor allen
Dingen, wenn Shay sprach, hörte er sich ganz und gar nicht so an wie Jesus in
den vier Evangelien.
    Aber es gab ein fünftes. Ein Evangelium,
das es nicht in die Bibel geschafft hatte, aber ebenso alt war. Ein Evangelium,
in dem der Glaube mancher Menschen zur Entstehungszeit des Christentums
Ausdruck fand. Ein Evangelium, aus dem Shay Bourne mir Zitate vorgetragen
hatte.
    Konnte es sein, dass sich die
Kirchenväter getäuscht hatten?
    Konnte es sein, dass die Evangelien, die
sie verworfen und als falsch abgelehnt hatten, die Richtigen waren und dass
diejenigen, die sie ins Neue Testament aufgenommen hatten, geschönte Fassungen
waren? Konnte es sein, dass die Verse des Thomasevangeliums tatsächlich aus
Jesu Mund stammten?
    Wenn ja, dann wären die Behauptungen über
Shay Bourne vielleicht gar nicht so abwegig. Und es wäre eine Erklärung dafür,
warum ein Messias womöglich in Gestalt eines zum Tode verurteilten Mörders
zurückkehren würde - um zu sehen, ob wir es diesmal besser machten.
    Ich erhob mich aus meinem Sessel, das
geschlossene Buch in der Hand, und begann zu beten.
    Himmlischer Vater, sagte ich leise, hilf
mir zu verstehen.
    Das Telefon klingelte, und ich zuckte
zusammen. Ich sah auf die Uhr - wer rief denn um drei Uhr morgens an?
    »Father Michael? Hier ist Aufseher
Smythe, von der Strafanstalt. Entschuldigen Sie, dass ich Sie um diese Uhrzeit
anrufe, aber Shay Bourne hatte wieder einen Krampfanfall.«
    »Wie geht's ihm?«
    »Er liegt auf der Krankenstation«, sagte
Smythe. »Er hat nach Ihnen gefragt.«
     
    Um diese Uhrzeit warfen die riesigen
Flutlichtscheinwerfer des Gefängnisses taghelles Licht auf die ruhenden
Belagerer in ihren Schlafsäcken und Zelten. Summend öffnete sich für mich die
Tür. Smythe wartete schon im Empfangsbereich auf mich. »Was ist passiert?«,
fragte ich.
    »Das weiß keiner«, sagte der Aufseher.
»Häftling DuFresne hat uns wieder alarmiert. Auf den Monitoren der Überwachungskameras
war nichts zu erkennen.«
    Wir betraten die Krankenstation. In einer
dunklen Ecke des Raumes saß Shay gegen Kissen gelehnt aufrecht im Bett, neben
ihm eine Krankenschwester. Er hielt einen Becher in der Hand und trank Saft
durch einen Strohhalm; seine andere Hand war ans Bettgestell gefesselt. Unter
seinem Krankenhaushemd kamen Drähte hervor. »Wie geht es ihm?«, fragte ich.
    »Er wird's überleben«, sagte die
Schwester und wurde dann rot, als sie ihren Fauxpas bemerkte. »Wir überwachen
sein Herz am Monitor. Bisher ist alles gut.«
    Ich setzte mich auf einen Stuhl neben
Shay und blickte Smythe und die Schwester an. »Könnten Sie uns eine Minute
allein lassen?«
    »Viel mehr Zeit bleibt Ihnen auch wohl
nicht«, sagte die Schwester. »Wir haben ihm vorhin ein starkes
Beruhigungsmittel gegeben.«
    Die beiden zogen sich auf die andere
Seite des Raumes zurück, und ich beugte mich näher zu Shay. »Was ist passiert?“
    »Sie

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