Das Herz ihrer Tochter
Vater musterte mich forschend. »Wie
ist es für dich?«
»Du hast mir geraten, Shay zu fragen, was
er will«, sagte ich. »Er will nicht, dass sein Leben gerettet wird. Er will,
dass sein Tod einen Sinn hat.«
Mein Vater nickte. »Viele Juden sind
gegen Organspenden, weil sie ein Verstoß gegen das jüdische Gesetz sind - der
Körper darf nach dem Tod nicht verstümmelt werden, er muss so schnell wie
möglich unter die Erde. Aber Pikuach
Nefesch, das Gebot, Leben zu retten,
hat Vorrang. Mit anderen Worten - ein Jude ist sogar verpflichtet, das Gesetz
zu brechen, wenn ein Menschenleben dadurch gerettet werden kann.«
»Dann darf man also auch einen Mord
begehen, um einen anderen Menschen zu retten?«, fragte ich.
»Na ja, Gott ist nicht dumm. Er setzt
Rahmenbedingungen. Aber wenn es ein karmisches Pikuach Nefesch in
der Welt gibt -«
»Du rührst Metaphern und Religionen ganz
schön ineinander ...«
»- wird der Umstand, dass du eine
Hinrichtung nicht verhindern kannst, zumindest aufgewogen durch den Umstand,
dass du ein Leben gerettet hast.«
»Zu welchem Preis, Daddy? Ist es
hinnehmbar, einen Verbrecher zu töten, einen Menschen, mit dem die
Gesellschaft nichts mehr zu tun haben will, damit ein kleines Mädchen leben
kann? Was wäre denn, wenn nicht ein kleines Mädchen das Herz brauchte, sondern
ein anderer Krimineller? Oder was wäre, wenn nicht Shay sterben müsste, um
seine Organe zu spenden, sondern ich?«
»Gott bewahre«, sagte
mein Vater. »Es ist Auslegungssache.“
»Moralisch gesehen,
tust du Gutes.“
»Indem ich Schlechtes
tue.«
Mein Vater schüttelte den Kopf. »Pikuacb Nefesch beinhaltet
noch etwas ... Es reinigt von Schuld. Du kannst keine Schuldgefühle wegen
eines Gesetzesverstoßes haben, weil du ethisch gesehen verpflichtet warst, ihn
zu begehen.«
»Siehst du, da täuschst du dich. Ich kann
durchaus Schuldgefühle haben. Wir reden hier nämlich nicht davon, am Jom
Kippur nicht zu fasten, weil du zufällig krank bist - wir reden davon, dass ein
Mensch sterben wird.«
»Und dein Leben
rettet.«
Ich blickte zu ihm
auf. »Claires Leben.«
»Zwei Fliegen mit einer Klappe«, sagte
mein Vater. »Wenn auch in deinem Fall nicht im wörtlichen Sinne, Maggie. Aber
dieser Fall - der bringt dich in Schwung. Er gibt dir etwas, worauf du dich
freuen kannst.« Er sah sich um - das Gedeck für eine Person, die Schüssel
Popcorn auf dem Tisch, der Kaninchenkäfig.
Ich vermute, an irgendeinem Punkt in
meinem Leben hatte ich mir auch mal das Rundumglücklichpaket gewünscht - die
Chuppa, den Ehemann, die Kinder, das Haus mit Garten -, aber irgendwann hatte
ich einfach die Hoffnung aufgegeben. Ich hatte mich an das Alleinsein gewöhnt,
daran, die andere Hälfte der Dosensuppe für den nächsten Tag aufzubewahren, den
Kopfkissenbezug nur auf einer Hälfte des Bettes zu wechseln. So schön
gemütlich, wie ich es mir in meinem Singledasein eingerichtet hatte, wäre
jemand Fremdes mir wie ein Eindringling vorgekommen.
Sich etwas vorzumachen kostete weitaus
weniger Mühe, als zu hoffen.
Ich liebte - und hasste - meine Eltern
auch deshalb, weil sie nach wie vor glaubten, ich hätte eine Chance auf all
das. Sie wollten nur, dass ich glücklich war, und sie konnten sich beim besten
Willen nicht vorstellen, wie ich mit mir allein glücklich sein konnte. Was,
anders ausgedrückt, bedeutete, dass sie mich für genauso bedürftig hielten wie
ich mich selbst.
Ich spürte, wie mir die Tränen kamen.
»Ich bin müde«, sagte ich. »Du gehst besser.«
»Maggie -«
Als er die Hand nach mir ausstreckte,
drehte ich mich weg. »Gute Nacht.«
Ich schaltete den Fernseher mit der
Fernbedienung aus. Oliver lugte vorsichtig hinter meinem Schreibtisch hervor,
und ich hob ihn hoch. Vielleicht lebte ich deshalb so gern mit einem Kaninchen
zusammen, weil es mir keine unerwünschten Ratschläge erteilte. »Du hast eine
Kleinigkeit vergessen«, sagte ich. »Pikuach
Nefescb gilt nicht für eine
Atheistin.«
Mein Vater, der gerade seinen Mantel vom
häßlichsten Garderobenständer der Welt nahm, verharrte kurz in der Bewegung.
Dann hängte er sich den Mantel über den Arm und kam auf mich zu. »Ich weiß, aus
dem Munde eines Rabbi hört sich das seltsam an«, sagte er, »aber es war mir nie
wichtig, woran du glaubst, Maggie, solange du ebenso fest an dich selbst
glaubst, wie ich an dich glaube.« Er strich Oliver über den Kopf, und unsere
Finger streiften einander, doch ich sah nicht zu ihm auf. »Und das ist
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