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Das Herz ihrer Tochter

Das Herz ihrer Tochter

Titel: Das Herz ihrer Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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keine
Auslegungssache.«
    »Daddy -«
    Er hob eine Hand, damit ich nicht
weitersprach, und öffnete die Tür. »Ich sag deiner Mutter, sie soll dir einen
neuen Pyjama zum Geburtstag schenken«, sagte er, ehe er ging. »Der da hat ein
Loch im Hosenboden.«
     
    MICHAEL
     
    1945 gruben Bauern am Fuße eines
Felshangs in der Nähe des kleinen ägyptischen Ortes Nag Hammadi nach einem
natürlichen Dünger. Einer von ihnen - ein Mann namens Mohammed Ali - stieß
dabei auf etwas Hartes. Die Bauern gruben weiter und förderten einen großen
Krug aus rotem Ton zutage. Aus Angst, er könne einen Dschinn beherbergen,
trauten sie sich zunächst nicht, den Krug zu öffnen, doch schließlich siegten
die Neugier und die Hoffnung auf einen Goldfund. Zum Vorschein kamen statt
dessen dreizehn in Gazellenleder gebundene Papyrusschriften.
    Die anderen Bauern überließen die
Schriften Mohammed Ali, der sie mit nach Hause nahm, wo seine Mutter einige
davon im Herd verheizte. Die Übrigen gelangten über verschlungene Wege
schließlich in die Hände von Religionswissenschaftlern, die ihre Entstehung
etwa auf das Jahr 140 nach Christus datierten, gut dreißig Jahre später als das
Neue Testament. Bei der Entschlüsselung stießen die Forscher auf die Namen von
Evangelien, die in der Bibel nicht vorkommen, aber lauter Verse enthielten, die
auch im Neuen Testament stehen... und viele, die nicht drin stehen. In einigen
sprach Jesus in Rätseln, in anderen wurden die Jungfrauengeburt und die
Auferstehung bestritten. Bekannt wurden die Texte als die gnostischen
Evangelien, und noch heute werden sie von der Kirche abgelehnt.
    Im Priesterseminar wurden die gnostischen
Schriften behandelt. Wir lernten, dass sie häretisch waren. Und ich kann Ihnen
sagen, wenn ein Priester Ihnen einen Text gibt und sagt, dass Sie das, was drin
steht, nicht glauben sollen, dann können Sie ihn nicht mehr unvoreingenommen lesen.
Mag sein, dass ich den Text flüchtig las, mag sein, dass ich nicht mal einen
Blick hineinwarf und dem Priester, der den Kurs leitete, erzählte, ich hätte
meine Hausaufgaben gemacht, obwohl das gar nicht stimmte. Wie auch immer, als
ich an jenem Abend Joel Blooms Buch aufschlug, war mir, als hätte ich die Worte
nie zuvor gesehen, und obwohl ich eigentlich nur das Vorwort des Herausgebers
lesen wollte - eines Mannes namens Ian Fletcher -, konnte ich einfach nicht
mehr aufhören und verschlang die Seiten, als hätte ich den neuesten
Stephen-King-Roman in den Händen und nicht eine Sammlung alter Schriften.
    Ein Lesezeichen steckte am Anfang des
Thomasevangeliums. Was die Bibel über Thomas sagte, war nicht gerade schmeichelhaft:
Er glaubt nicht, dass Lazarus von den Toten auferstehen wird. Als Jesus seinen
Jüngern sagt, sie sollen ihm folgen, entgegnet Thomas, sie wüßten nicht,
wohin. Und als Jesus nach der Kreuzigung aufersteht, ist Thomas nicht da - und
glaubt es erst, als er die Wunden mit eigenen Händen berühren kann. Er ist
gleichsam die Verkörperung des Unglaubens - im wahrsten Sinne des Wortes der ungläubige Thomas.
    Doch in Rabbi Blooms Buch begann die
erste Seite so:
    Dies sind die geheimen Worte, wie Jesus
der Lebendige sie sprach und der Zwilling Didymos Judas Thomas sie aufschrieb.
    Zwilling? Seit wann hatte Jesus einen
Zwillingsbruder?
    Das »Evangelium« erzählte nicht Jesu
Lebensgeschichte, wie Matthäus, Markus, Lukas und Johannes, sondern war eine
Sammlung von Jesus-Zitaten, die allesamt mit den Worten Jesus sprach eingeleitet
wurden. Manche erinnerten an Bibelworte. Andere waren völlig unbekannt und
klangen eher wie Logikrätsel als nach einem Bibeltext:
    Wenn ihr das hervorbringt, was in euch
ist, wird das, was in euch ist, euch retten. Wenn ihr das, was in euch ist,
nicht hervorbringt, wird das, was in euch ist, euch töten.
    Ich las den Vers zweimal und rieb mir die
Augen. Irgendwie hatte ich das Gefühl, ihn schon mal gehört zu haben. Dann fiel
es mir wieder ein.
    Etwas Ähnliches hatte Shay zu mir gesagt,
als ich ihn das erste Mal besuchte und er mir erklärte, warum er Ciaire Nealon
sein Herz spenden wollte.
    Ich las aufmerksam weiter und hatte dabei
immer wieder Shays Stimme im Ohr:
    Die Toten sind nicht lebendig, und die
Lebendigen werden nicht sterben.
    Wir kommen aus dem Licht.
    Spaltet das Holz, ich bin da. Hebt einen
Stein auf, und ihr werdet mich dort finden.
     
    So hatte ich mich
gefühlt, als ich das erste Mal Achterbahn fuhr - als würde mir der Boden unter
den Füßen weggezogen, als müsste

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