Das Herz kennt die Wahrheit
nicht mehr ganz sicher auf den Beinen war, trat er mit einem leichten Taumeln über die Schwelle und entdeckte, dass die gesamte Lambert-Familie in der Eingangshalle versammelt war und ihn mit finsteren Blicken bedachte.
Unsicher hob er den Kopf und trat linkisch von einem Bein auf das andere. Doch dann straffte er die Schultern, da er sich ein wenig würdevoller geben wollte.
Darcy drängte sich an den anderen vorbei und eilte auf den alten Mann zu. "Hast du ihn gefunden, Newt?"
"Ja, mein Mädchen. Ich war die ganze Nacht bei ihm. Ich nehme an, es war nicht besonders klug, aber ich dachte, ich könnte ihn vielleicht dazu bewegen, zurückzukommen."
"Er kommt nicht zurück, nicht wahr, Newt?"
Newton schluckte. "Nein, Mädchen." Er bemerkte, wie sie zusammenzuckte, als hätte er sie geschlagen. Unwillkürlich streckte er seine Hand aus, doch sie entzog sich seiner Berührung. Ihre Augen waren unnatürlich groß, und ihre Wangen waren vor Aufregung gerötet. "In diesen Augenblicken geht er an Bord eines Schiffes, das nach Indien segelt."
"Hast du ihn an Bord gehen sehen?"
"Ja." Unbeholfen zog er den Kopf ein und wünschte, der Boden würde endlich aufhören zu wanken.
"Was ist mit Whit? Was soll aus ihm werden?" bedrängte Darcy ihn weiter.
"Er sagte, er würde Geld für den Unterhalt des Jungen schicken. Und wenn er einen Ort findet, an dem er sich niederlassen will, wird er den Burschen benachrichtigen." Newton schaute auf. "Er ist ein trauriger, einsamer Mann, Mädchen, der dich und den Jungen liebt. Aber er fühlt sich deiner nicht würdig."
"Beim Himmel!" rief Geoffrey Lambert entrüstet aus. "Er ist ihrer wahrlich nicht würdig. Dieser Schurke! Ich hätte selbst nach Land's End gehen sollen, um die Ehre meiner Enkelin zu verteidigen."
"Nicht, Großvater." Darcy ging zu dem alten Mann und umarmte ihn. "Ich verstehe, was du empfindest. Du warst stets in der Lage, mir das zu geben, was ich haben wollte. Und dieses Mal kannst du es nicht. Es liegt nicht in deiner Hand. Und auch nicht in meiner. Ich weiß, wie sehr dich das schmerzt. Doch ich werde überleben. Wir alle werden es schaffen."
"Darcy, es tut mir so Leid." Ambrosia berührte ihre Schwester sanft am Arm. Eine schwere Last schien sie zu erdrücken. "Das war alles meine Schuld."
"Und meine", fügte Bethany betroffen hinzu. "Wenn wir uns nicht eingemischt hätten …"
"Nein", erwiderte Darcy entschieden. "Euch trifft keine Schuld. Es war einzig und allein mein Fehler. Gryf hatte Recht. Ich wollte wirklich, dass er Gray ist. Oder vielleicht wollte ich, dass Gray sich allmählich in Gryf verwandelt. Eigentlich weiß ich überhaupt nicht, was ich wollte. Ich weiß nur, dass er jetzt fort ist." Darcy spürte, wie die Tränen in ihr hochstiegen. Doch da sie nicht vor ihrer Familie weinen wollte, musste sie einen Ausweg finden. "Ich gehe … kurz auf den Söller, um ein bisschen frische Luft zu schnappen."
Als sie die Stufen hinaufeilte, kam sie sich wie ein Feigling vor. Ratlos und verzweifelt schauten die anderen ihr nach.
Die Segel der "Jenny Mae" flatterten in der frischen Morgenbrise. Vom Söller aus vermochte Darcy sogar einige Seeleute zu erkennen, die an Deck ihren Aufgaben nachkamen. Welcher von ihnen ist Gryf? fragte sie sich. Derjenige, der gerade in die Wanten kletterte? Oder der, der an der Reling stand und aufs Ufer blickte?
Sie hatte ihrem Großvater versprochen, dass sie es schaffen würde. Doch jetzt, in diesem Augenblick, musste sie sich eingestehen, dass sie das Versprechen nicht halten konnte. Das_Herz war ihr so schwer vor Kummer, dass es zu zerbrechen drohte. Wenn sie geglaubt hatte, der Verlust von Gray sei schmerzhaft gewesen, so war der Verlust von Gryf doch_unendlich schlimmer. Sie liebte ihn. Nicht nur wie ein Kind, das einen Helden anhimmelt, sondern von ganzem Herzen und voller Hingabe, wie eine Frau einen Mann nur lieben kann. Sie hatte ihm alles geschenkt, was sie ihm geben konnte. Vertrauen. Aufrichtigkeit. Stolz. Und er hatte alles genommen und sie mit nichts zurückgelassen. Mit nichts außer Tränen.
Jetzt brach sich ihr Kummer Bahn. Große, heiße Tränen strömten über ihre Wangen und benetzten den samtenen Stoff des Kleides. Wie sie die Tränen hasste! Sie verabscheute die Schwäche, die sich dadurch offenbarte. Doch es ließ sich nicht ändern. Trotz all ihrer viel versprechenden Versuche, ein harter Schiffskapitän zu sein, verwandelte sie sich nun in eine wimmernde, törichte Frau, die Tränen wegen
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