Das Herz kennt die Wahrheit
Erwachsenen mit ansehen, wie der Junge von einer Welle nach der anderen verschluckt wurde. Jedes Mal, wenn er verschwunden war, glaubten sie mit Sicherheit, er sei ertrunken. Doch immer dann, wenn sie schon alle Hoffnung fahren ließen, erblickten sie ihn wieder und beobachteten, wie er mutig gegen die Wellen ankämpfte, die mittlerweile so hoch waren wie die Reling eines Schiffes.
"O Newton." Tränen strömten über Miss Mellons Wangen und nahmen ihr die Sicht. "Das ist alles meine Schuld. Ich habe es zugelassen, dass unsere Kleine ertrinkt. Und jetzt wird auch noch dieser tapfere Junge sein Leben lassen."
"So beruhigt Euch doch." Der alte Seemann tätschelte ihr die Hand, während er unverwandt das klägliche Vorankommen des Jungen verfolgte. "Niemanden trifft irgendeine Schuld. Das Mädchen liebt nun einmal das Meer. Und sie ist zu jung, um die Gefahr zu sehen."
"Ja. Sie kennt überhaupt keine Angst." Die Lippen der armen Frau bebten, und ihr Weinen wurde heftiger. "Auch der Junge nicht. Wie soll ich es jemals Captain Lambert beibringen? Zuerst hat er seine liebe Frau verloren. Und jetzt seine Kleine. Und er hat sie in meine Obhut gegeben."
"Pst", versuchte Newton das Kindermädchen zu beruhigen. "Noch besteht die Möglichkeit, dass der Junge sie rechtzeitig erreicht." Doch der Stimme des alten Mannes fehlte jegliche Überzeugungskraft. Er traute nur wenigen hartgesottenen Seeleuten zu, gegen solch hohe Wellen anzukämpfen. Und selbst wenn es dem Burschen gelänge, das Boot zu erreichen, wie sollte er es in dieser rauen See sicher zurück an Land bringen?
Der Himmel verdüsterte sich zusehends, und die Kinder scharten sich schutzsuchend um ihr Kindermädchen. Sie waren ungewohnt schweigsam, da sie den Ernst der Lage erkannten.
"Wird Darcy sterben, Winnie?" fragte Ambrosia leise.
Zum ersten Mal in ihrem Leben fand Miss Mellon keine Kraft, um die Frage zu verneinen.
"Wird sie sterben, Newt?" Mit ängstlicher Miene zupfte James den alten Mann am Ärmel.
Newton war nicht in der Lage zu sprechen. Er legte den Arm um den Jungen und starrte weiterhin in die Ferne, obwohl es inzwischen so dunkel geworden war, dass man weder das Boot noch Gray in den Fluten sehen konnte.
Von ihren Gefühlen überwältigt, sank Miss Mellon im Wasser auf die Knie, drückte Ambrosia und Bethany gegen ihre Brust und begann heftig zu schluchzen.
Plötzlich deutete James aufs Meer. "Schau doch, Newt!"
Der alte Seemann brauchte einen Moment, ehe er erleichtert ausstieß: "Bei meiner Treu."
"Was ist?" Das Kindermädchen erhob sich wieder und blickte angestrengt aufs Wasser, aber alles, was es sehen konnte, war die schwarze, aufgeworfene See.
"Dort." Als ein Blitz über den Himmel zuckte und auf den Wellen zu tanzen schien, konnten sie die Umrisse eines kleinen Bootes erkennen.
Bei jedem grellen Blitz schien das Boot näher zu kommen.
"Gelobt sei …", murmelte Newton, als er in die schäumende Brandung lief.
Minuten später zog er das kleine Boot ans Ufer. Völlig außer Atem kletterte Gray heraus und hielt die kleine Darcy in den Armen.
Als Miss Mellon ihm das Kind abnehmen wollte, klammerte sich die Kleine mit beiden Armen an ihren Retter und vergrub ihr Gesicht in seiner Halsbeuge.
"Nein. Ich will bei Gray bleiben. War er nicht tapfer? Er ist den ganzen Weg geschwommen, um mit mir zurückzurudern. Und was für eine aufregende, unruhige Fahrt das war! Ich hatte schon Angst, aber Gray sagte, er würde es nie zulassen, dass mir etwas zustößt. Niemals."
Anstatt das Mädchen auf die Füße zu stellen, um wieder zu Atem zu kommen, strahlte der Junge über das ganze Gesicht. "Alles in Ordnung, Miss Mellon. Sie ist nicht schwer. Sie ist ja noch ein kleines Mädchen." Er blickte in ihre Augen und sah, dass sie voller Bewunderung zu ihm aufschaute. "Kein Grund, sich Sorgen zu machen. Darcy hatte nicht einmal Angst. Sie paddelte wie wild und war ein bisschen verärgert, dass sie nicht zurück zur Küste kam."
Er guckte die anderen an. "Ist sie nicht etwas ganz Besonderes?"
"Ja, mein Junge, das ist sie", bestätigte Newton. "Genau wie du. Du hast großen Mut bewiesen."
"Ich habe ihrem Vater feierlich versprochen, dass ich immer auf sie achten werde, wenn er auf See ist."
"Das hast du heute bewiesen, Junge."
"Ja, Sir. Denn ich halte mein Versprechen."
"Das glaube ich." Newton legte den Arm um die Schultern des Jungen und führte ihn zum Haus der Lamberts.
Und obwohl Gray am Ende seiner Kräfte sein musste, trug er seine kleine
Weitere Kostenlose Bücher