Das Herz kennt die Wahrheit
Übelkeit an, die sie geschwächt auf dem harten Holzboden niedersinken ließ. Ihr Leib war von kaltem Schweiß bedeckt. Es pochte in ihrem Kopf, und der Hals tat ihr weh von all der Anstrengung, keine Tränen zu vergießen. Erst nach langer Zeit fiel sie in einen tiefen Schlaf, der angefüllt war mit Bildern eines brennenden Schiffes, das langsam in den aufgeworfenen schwarzen Wogen des Atlantiks versank.
"Darcy?" Die alte Miss Mellon schlich in das Gemach und erschrak, als sie die junge Frau zusammengekrümmt unter dem Fenster liegen sah.
"Ja?" Darcy hob den Kopf und fuhr sich mit der Hand durchs Haar, das ihr wirr ins Gesicht hing. Ein bleiches und gequältes Gesicht.
Die Sonne stand bereits hoch am Himmel, und leuchtende Strahlen fielen durch das Fenster.
"Wir haben dich nicht zur Sonntagsmesse geweckt, da wir es für besser hielten, dich schlafen zu lassen."
"Hab Dank, Winnie. Ich …" Darcy schaute sich um und machte sich bewusst, dass sie die Nacht auf dem Fußboden verbracht hatte. "Das war nett von dir."
"Vikar Thatcher Goodwin hat der Gemeinde die Nachricht überbracht. Er hat die Absicht, heute Abend einen Gedenkgottesdienst für all die Männer aus dem Dorf abzuhalten, die an Bord der 'Carrington' dienten und auf See geblieben sind."
Als Darcy nichts erwiderte, holte die alte Frau tief Luft. "Du musst an der Messe teilnehmen, mein Kind."
Doch Darcy schüttelte entschieden den Kopf. "Wenn ich das täte, würde ich zugeben, dass Gray …"
"Das verstehe ich. Aber die anderen in Land's End werden es nicht begreifen. Sie wissen seit langem, dass du und Gray …", sie wählte ihre Worte mit Bedacht, "… vorhattet, euer Leben gemeinsam zu verbringen. Wenn du dem Gottesdienst fernbleibst, werden sie denken, dass dir nicht viel an der Teilnahme liegt."
Darcy seufzte. "Es kümmert mich nicht, was die anderen denken, Winnie. Das war schon immer so."
Das alte Kindermädchen straffte die Schultern. Mit den Jahren hatte sie gelernt, wann sie nachgeben musste und in welchem Fall diese eigensinnigen jungen Frauen eine Zurechtweisung verdienten. Sie hatte sich auf einen längeren Wortwechsel eingestellt.
"Es mag dich nicht kümmern, was die Dorfbewohner denken. Aber du schuldest es Grays Andenken, teilzunehmen."
"Aber ich …"
Miss Mellon hielt die Hand hoch. "Du hörst mir jetzt zu, Darcy. Heute Abend wirst du deine eigenen Gefühle zurückstellen. Du wirst die Lesungen aus der Bibel und die Kirchenlieder über dich ergehen lassen, auch wenn dein Herz gebrochen ist. Du wirst das tun, weil es richtig ist und deine Familie und deine Freunde es von dir erwarten. Aber hauptsächlich wirst du es tun, um das Andenken des edlen jungen Mannes in Ehren zu halten, den du immer geliebt hast."
Darcy hielt ihre Widerworte zurück, die ihr auf der Zunge brannten, und nickte schließlich.
"Fein." Miss Mellon tätschelte ihre Schulter. "So ist es recht, Kind. Reiß dich zusammen und bereite dich auf den Gottesdienst vor."
Sie wandte sich ab und verließ das Schlafgemach. Am unteren Treppenabsatz wartete der Rest der Familie. Miss Mellon nickte steif und sah, dass die anderen vor Erleichterung aufatmeten.
Ohne ein Wort zu verlieren, ging sie weiter, und es gelang ihr, die Tränen so lange zurückzudrängen, bis sie ihr eigenes Zimmer erreicht hatte. Erst dann ließ sie es zu, um das Kind zu weinen, das ihr in all den Jahren so viele ängstliche Momente beschert hatte. Sie trauerte mit der anmutigen jungen Frau, die sie geworden war. Es tat ihr in der Seele weh, dass das arme Mädchen nun den Mann beerdigen würde, der sie zu seiner Braut machen wollte.
Sämtliche Bänke der kleinen Dorfkirche waren besetzt. Aus allen Teilen von Land's End kamen die Leute herbei, um den Seeleuten ihre Anerkennung zu zollen, die ihr Leben an Bord der "Carrington" verloren hatten. Die Frauen sahen düster aus in ihren dunklen Gewändern und Hauben, und die Kinder waren ungewöhnlich still. Die Männer, ob jung oder alt, nickten bei jedem Wort, das der Vikar Thatcher Goodwin sprach. Alle Männer, Frauen und Kinder in Cornwall verstanden, welchen Gefahren sich die Seeleute jedes Mal ausgesetzt sahen, wenn sie sich auf den Atlantik hinauswagten. Die See war eine strenge Gebieterin. Eine wankelmütige und oft feurige Geliebte, die einem Mann aus einer Laune heraus das Herz oder auch das Leben rauben konnte – und die trauernde und klagende Witwen und Waisen zurückließ.
Darcy saß bei ihrer Familie und rang um Fassung. Während
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