Das Herz kennt die Wahrheit
einen guten Grund dafür, warum ein so junger Bursche es nicht mag, wenn man ihn anfasst. Ich möchte wetten, dass er des Öfteren geschlagen wurde."
Unwillkürlich legte sie die Hand auf den Mund. "Denkst du, sein Freund Gryf …?"
Newton schüttelte den Kopf. "Der Junge scheint seinen Freund wirklich zu mögen. Doch ich glaube, wir tun ihm einen Gefallen, wenn wir ihn hier aus dem Wirtshaus herausholen. Vielleicht tun wir ja beiden einen Gefallen."
Sie hatten gerade die Frühmahlzeit beendet, als Whit zurückkehrte, gefolgt von Gryf. Auch dessen Stiefel waren mit Mist bedeckt, und seine Kleidung stank nach Stall.
Als er an den Tisch trat, spürte Darcy wieder dieses seltsame Stechen in ihrem Herzen. Sie versuchte, in seine Augen zu blicken, die halb unter der Krempe eines alten, abgetragenen Seemannshutes verborgen lagen. Im Morgenlicht wirkten sie immer noch blutunterlaufen, doch sie schienen dunkel zu sein. Grays Augen hatten die Farbe von Kaffeebohnen gehabt und stets vor Frohsinn gesprüht.
"Da sind wir, Captain", rief Whit. "Gryf ist damit einverstanden, auf Eurem Schiff anzuheuern."
"Das möchte ich aus seinem Munde hören, wenn du nichts dagegen hast, Whit." Darcy schaute in das Gesicht des Mannes. "Was sagt Ihr, Gryf?"
Er nickte. "Ja. Ich bin bereit anzuheuern." Seine Stimme klang wie die eines Mannes, den man beinahe zu Tode gewürgt hatte. Jedes Wort brachte er nur mit Mühe hervor.
"Ihr kennt die Gefahren?" wollte Newton wissen.
Gryf sah den Jungen an und lächelte. "Whit und ich haben nichts mehr zu verlieren."
"Nur noch Euer Leben." Newton sah sich den Mann genau an. "Könnt Ihr Euren Namen schreiben?"
"Aye."
Der alte Seemann schlug eine Seite des Logbuchs auf, drehte es zu dem Fremden und reichte ihm eine Schreibfeder. "Wenn Ihr Euch Eurer Sache sicher seid, unterzeichnet hier."
Gryf kritzelte ein Wort in das Buch und richtete sich wieder auf.
Darcy warf einen Blick auf den Vornamen. "Und wie lautet Euer Familienname?"
Der Mann zuckte mit den Schultern. "Ich kenne ihn nicht."
"Wie meint Ihr das? Seid Ihr ein Findling?"
"Vielleicht. Ich weiß es nicht." Er hielt inne und schluckte, bevor er in heiserem Krächzen fortfuhr: "Dies ist der Name, den mir die Familie gab, die mich nach dem Brand gesundgepflegt hat."
"Ein Brand?" Darcys Herz begann wie wild zu pochen. Aus ihrem Gesicht wich jegliche Farbe.
Als Newton ihre Blässe sah, mischte er sich kurzerhand ein. "Ein Schiffsbrand?"
Gryf schüttelte den Kopf, doch es war der Junge, der für ihn antwortete. "Das viele Sprechen strengt ihn zu sehr an. Sein Hals ist immer noch rau von dem Rauch und den Flammen. Es war kein Schiffsbrand, sondern ein Feuer in einem Wirtshaus. Man fand Gryf mit schlimmen Verletzungen in den verkohlten Überresten."
Darcys Hoffnungen sanken. Sie musste sich regelrecht zwingen, gleichmäßig einund auszuatmen, während der Junge weitersprach.
"Eine freundliche Familie nahm Gryf bei sich auf, bis seine schlimmsten Verbrennungen verheilt waren. Aber sie konnten in Timmeron niemanden finden, der ihn wiedererkannte. Vielleicht lag es daran, dass er im Gesicht und am Körper so viele Brandwunden hatte. Und Gryf kann sich bis heute an nichts aus seinem Leben erinnern."
"Wie sind sie auf den Namen Gryf gekommen?"
"Es war der Name des Großvaters. Er wurde in der Familie sehr verehrt. Ursprünglich kam er aus Cornwall und hatte einen ähnlichen Akzent wie Gryf."
Darcys Augen weiteten sich. "So stammt Ihr vielleicht aus Cornwall?"
Der Mann zuckte mit den Schultern. Offenbar war es ihm unangenehm, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. "Vielleicht. Ich weiß es nicht."
"Und die Freundschaft mit dem Jungen?" Newton nahm Whit in Augenschein, der mit echter Zuneigung zu diesem Mann aufblickte.
"Ich wusste, dass ich der Familie zur Last fiel, die mich gesundgepflegt hatte. Also ging ich ins Dorf, um Arbeit zu suchen. So lernten Whit und ich uns kennen. Der Junge hatte keinen Schlafplatz, und daher entschieden wir uns für den Schuppen. Seitdem sind wir zusammen."
"Ihr scheint bereit, hart zu arbeiten", sagte Newton. "Aber könnt Ihr auch die Arbeiten eines Seemanns verrichten?"
"Ich werde mich bemühen."
"Mögt Ihr die See?" fragte der alte Mann.
Wieder erntete er ein Schulterzucken. "Ich denke, ja. Zumindest habe ich keine Angst davor. Und ich fühle mich zur See hingezogen. Mehr als zum Land."
Newton warf Darcy einen Blick zu, die Gryf wie gebannt musterte. Da sie spürte, dass der alte Mann sie ansah, wandte
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