Das Herz meines Feindes
Gesicht wurde hart, und selbst durch den Schlei er ihrer Tränen konnte sie den Ingrimm in seinem Gesicht erkennen.
»Verdammt, Weib! Selbst, wenn ich seinen Tod geplant hätte, jemanden zu vergiften ist nicht meine Art. Ich bin ein .Ritter. Und ich habe meinen Stolz. Ich töte meinen Gegner offen, im Kampf Mann gegen Mann.«
Sie schloss ihre Augen fest und wandte sich von ihm ab. Sie wollte seine Worte nicht hören. Sie wollte ihm keine wie auch immer geartete Ehre zugestehen, doch sie konnte nicht abstreiten, dass das, was er sagte, ein Körnchen Wahrheit in sich barg. Niemals würde er sich mit Gift abgeben. Zweifellos würde er seine gefährliche Klinge mit Leichtigkeit durch die Brust eines Mannes bohren, aber er würde seinem Opfer dabei ins Gesicht blicken.
Dieses Zugeständnis ließ eine Flut von verschiedensten Empfi n dungen in ihr frei – all die zurückgehaltene Trauer um ihren Vater und ein schrecklich verwirrendes Gefühl der Erleichterung, dass Corbett vielleicht doch kein Mörder war. Aber warum war ihr Vater dann gestorben? War es einfach nur so, wie Thomas gesagt hatte, ein Leiden, das er vor ih nen allen verborgen hatte? Ein Schluchzen entrang sich ihrer Kehle, und sie vergrub ihr Gesicht in den Händen.
Sofort spürte sie, wie Corbett ihre Schultern ergriff und wie seine starken Arme sie umfingen. »Still«, murmelte er, als er sie ung e schickt in den Armen hielt. »Weine nicht, Lily. Weine nicht.«
Aber das ließ die Tränen nur noch heftiger fließen. Schreckliche Schluchzer schienen ihr Innerstes zu zerreißen, doch er presste sie an sich. Die Tage nach der Beerdigung ih res Vaters waren so schwer gewesen. Sie war stark gewesen und hatte die Entscheidungen getroffen, die sie treffen musste. Aber jetzt konnte sie einfach nicht mehr stark sein.
Lilliane wusste nicht, wie Corbett sie zu einem Stuhl führ te und sich dann hinsetzte und sie auf seinen Schoß nahm. Während er sie streichelte und tröstete, war sie wie ein Kind in seinen Armen. Seine Hände waren sanft, und seine nackte Haut lag kühl an ihren übe r hitzten Wangen. Aber als der Tränenfluss langsam zu versiegen begann, wusste sie, dass sei ne zärtliche Berührung trotzdem die eines Mannes war, der eine Frau streichelte.
»Es ist schwer, ein Elternteil zu verlieren.« Er sprach ganz leise.
»Ich habe sie jetzt beide verloren. Beide sind jetzt fort.«
»Wie meine Eltern.« Er hielt inne, und seine Finger glitten ihren Rücken hinauf bis zu der weichen Wölbung ihres Nackens. »Du musst jetzt lernen, dich auf mich zu verlassen. Ich bin dein Mann. Ich werde für dich sorgen.«
Das leise Rumpeln in seiner Stimme wirkte beruhigend auf Lillianes überspannte Nerven, und einen schwachen Au genblick lang ließ sie ihren schmerzenden Kopf an seiner Schulter ruhen. Sie war verwirrt und erregt, hin-und herge rissen zwischen ganz unterschie d lichen Empfindungen. Die Logik sagte ihr, dass er die Ursache all ihres Leids war. Und doch…
Sie kämpfte gegen den beruhigenden Trost seiner sanften Uma r mung und wischte sich mit dem Handrücken die Trä nen aus dem Gesicht.
»Ich muss mit Thomas reden. Er und…«
»Morgen.«
Lilliane warf Corbett einen misstrauischen Blick zu, plötz lich fühlte sie sich in dieser allzu intimen Haltung unbehag lich. »Ich muss noch heute Abend mit ihm reden«, beharrte sie. »Wenn es stimmt…«
»Es stimmt. Morgen ist es noch früh genug, um mit ihm zu reden. Er war sowieso schon ziemlich betrunken, als ich ihn verließ.«
Lilliane seufzte niedergeschlagen. »Armer Thomas. Er hat Vater sehr geliebt.« Sie wandte ihr blasses Gesicht dem Feuer zu und starrte traurig in die niedrigen, flackernden Flammen. Seit Tagen hatte sie sich fieberhaft damit beschäf tigt, das Schloss gegen Corbett zu wappnen. Die Aufgabe war ihr schwerer gefallen als alles, was sie in ihrem Leben bislang zu bewältigen gehabt hatte. Aber jetzt erkannte sie, dass es für sie nur ein Weg gewesen war, um vor der schmerzhaften Leere zu flüchten, die die Abwesenheit ihres Vaters hinterließ. Sie hatte zwei Jahre in der Fremde verschwendet, und das ließ sie den Verlust sogar noch schwerer ertragen.
»Thomas wird sich ohne ihn ganz verloren fühlen.« Sie lä chelte matt. »Mein Vater war ein guter Mann.«
»Ich zweifle nicht daran, dass er ein guter Vater war.«
Lilliane war die Bedeutung von Corbetts Worten sofort klar. Sie wandte ihm ihre großen, von schwarzen Wimpern umrandeten Augen zu. »Er war ein guter Mann«, beharrte
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