Brandeis: Ein Hiddensee-Krimi (German Edition)
Prolog
Den Galgen hatte die Feuerwehr gebaut. Ein derbes Dreibein aus geschälten Kiefernstämmen, gut zwei Meter hoch und fest im Boden verankert. Vom längsten der Stämme, der ein gutes Stück über die anderen beiden hinausragte, baumelte die Tonne an einem Strick. Obwohl es fast windstill war, schwang sie schon leicht hin und her, bevor der erste Hieb sie traf.
Die Keule ging reihum von Hand zu Hand, und jedes der Kinder hoffte, sein Schlag würde es sein, dessen Wucht die Dauben der Tonne bersten ließ.
Einhundertsiebenundvierzig Schläge brauchte es, bis sich unter dem Gejohle der Menge der Fassboden löste und die Katze mitsamt allen Süßigkeiten auf den Sportplatzrasen fiel.
Heiner Thiel hob das Glas zum Mund und ließ es gleich wieder sinken, als das lauwarme, schaumlose Bier seine Lippen berührte.
Wie Pisse, dachte er und sah sich nach einer Möglichkeit um, Glas samt Gebräu irgendwo abzustellen. Aber er stand eingezwängt zwischen Möhle und Baring, die sich wie alle das Spektakel mit der Tonne am Galgen nicht entgehen lassen wollten.
»Wenn die Katze wenigstens echt wäre.« Arnold Möhle sah verächtlich auf das schwarz-weiße Stofftier. Er war stellvertretender Ortsbrandmeister und Katzenhasser und bekannt für eine Neigung zu kurzen Prozessen, die nicht so recht in die neuen Zeiten passte, von denen jetzt alle gern schwafelten.
»Früher hat’s so was hier gar nicht gegeben«, stellte der dicke Baring richtig und schob seine Feuerwehrmütze aus der Stirn. Das Schweißband ließ einen roten Streifen unter dem Haaransatz zurück.
»Stimmt, bevor’s der Däne eingeschleppt hat, nicht.« Möhle, einen halben Kopf größer als Baring und entschieden weniger korpulent, brachte beim Sprechen kaum die Zähne auseinander und klang, als hätte Sören Jensen bei seiner Ankunft vor drei Jahren die Pest im Gepäck mit nach Groß Zicker gebracht.
»Wie sieht’s aus, Hiddenseer, spendierst du ’ne Runde zur Feier des Tages?« Baring hatte das Interesse an Katze und Tonne verloren und knuffte Thiel auffordernd in die Seite.«Ein bisschen vorglühen kann nicht schaden, oder was meinst du?«
Natürlich hätte Thiel mitgehen, eine Runde ausgeben und auch die nächsten noch mittrinken können. Dann wäre wahrscheinlich alles anders gekommen. Dann hätten sie ihn spätestens um acht sternhagelvoll in sein Quartier geschleift und gewusst, dass er an diesem Abend nirgendwo mehr hingehen würde. Zum Feuerwehrball im Festzelt nicht und mit Manu nach Hause erst recht nicht. Denn Manu konnte Besoffene
nicht ausstehen, das wussten nicht nur die, die erst im Vollrausch den Mut fanden, mit ihr zu poussieren und das Lächeln zu ertragen, mit dem sie sich abwandte. Einem Lächeln, so wissend und verächtlich, dass man sich hilflos und mickrig fühlte mit seiner Lust auf sie. Das hatte nicht nur Möhle am eigenen Leib erfahren müssen, als er Manu im Jahr zuvor unbedingt hatte nach Hause begleiten wollen. Richtig verwunden hatte er das bis heute nicht. Weder, dass sie sich wortlos aus seiner betrunkenen Umklammerung gelöst hatte, noch seinen Sturz in die Pfütze hinter dem Festzelt, als er ihr trotzdem nachlaufen wollte. Baring und ein paar andere hatten ihm auf die Beine geholfen, so gut es eben ging, ihn samt seiner dreckigen Uniform nach Hause gebracht und sich noch monatelang brüllend vor Lachen auf die Schenkel geschlagen, wenn wieder mal jemand meinte, die Geschichte erzählen zu müssen.
»Was ist, hat’s dir die Sprache verschlagen?«, brachte Baring sich und seinen Durst auf Freibier in Erinnerung.
»Später«, wehrte Thiel ab. »Der Tag ist noch lang, und ich hau mich erst mal aufs Ohr, bevor’s heute Abend richtig rundgeht.«
Baring sagte dazu nichts. Ob der Hiddenseer nun Bier spendierte oder nicht war ihm im Grunde genommen egal. Er würde so oder so auf sein Quantum kommen, so viel war sicher.
»Auch gut«, sagte er, zerrte an seiner Krawatte und
öffnete den obersten Hemdknopf. Dann ging er mit Möhle davon, der wortlos, mit nicht mehr ganz klarem Blick daneben gestanden und noch weniger Wert auf Thiels Begleitung gelegt hatte.
Das Wetter war wie bestellt für das Feuerwehrfest in Groß Zicker. Warm wie nur selten in diesem eher mäßigen Sommer 1994. Der Himmel stahlblau, von ein paar Zirren wie mit hauchzarter Gaze gestreift, das Wasser des Boddens fast grün in der windstillen Luft. Seit dem Morgen buntes Treiben zwischen Hafen und Festplatz. Überall das Lachen und Kreischen der Kinder,
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