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Das Herz

Das Herz

Titel: Das Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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— ein Fußmarsch von mehreren Minuten. »Ihr seid zu gütig«, sagte er. Das frischgebackene Heiligtum war eine der größeren Kammern des Labyrinthkomplexes, gelegen am oberen, vorderen Ende dieses Karnickelbaus, den die nordländischen Yisti geschaffen und die xixischen Truppen erst vor wenigen Tagen befreit hatten. Zähneknirschend humpelte er hinter den Priestern her.
    Mit Interesse stellte Vash fest, dass die neueste Gefangene des Autarchen einen Ehrenplatz im Heiligtum innehatte, der nur hinter dem von Nushash selbst zurückstand: Ihr Käfig befand sich in der Mitte des Raums, nicht weit von dem verhängten Schrein, der die uralte vergoldete Holzfigur des Gottes enthielt. Das Mädchen — Kintan, Kwintan, der Name spielte keine Rolle, sie war ja nur die Tochter eines minderen Priesters — kniete mitten im Käfig im Stroh, die Hände hinterm Rücken gefesselt, das Gesicht von schwarzem Haar verhangen — offensichtlich eine Schmollpose. Aber Vash wusste, dass sie es war, wegen der wilden, flammendroten Strähne in ihrem Haar.
    »Ihr entschuldigt mich kurz, Minister Vash«, sagte Panhyssir, jetzt die Förmlichkeit in Person. »Das hier muss pünktlich erfolgen, täglich bei Sonnenaufgang, mittags und dann abends noch einmal.« Er lachte. »Obwohl natürlich Sonnenauf- und untergang in diesen Höhlen rein abstrakte Größen sind.«
    Höhlen,
dachte Vash schaudernd. Als ob man etwas so Gewaltiges, Uraltes und Seltsames wie diese unterirdische Welt einfach Höhlen nennen könnte! Diese verwirrenden Tiefen mit ihren riesigen, hallenden Räumen, ihren monströsen Felsmalereien und eingeritzten Zaubersymbolen? Höhlen waren überschaubare Nischen in den Felsen am Meer nahe dem Sommerwohnsitz der Vashs. Das hier war eine ganze Welt.
    Der Käfig wurde aufgeschlossen, aber das Mädchen rührte sich nicht. Einer der jungen Priester brachte Panhyssir eine dampfende Schale. Der Oberpriester hielt sie sich kurz unter die Nase, schnupperte flüchtig, nickte dann auf seine übliche pompöse Art und gab die Schale zurück. Der junge Mann trug sie zum Käfig, hielt sie dem Mädchen hin und vollführte, als keine Reaktion erfolgte, eine kleine Pantomime, als wäre es unter seiner Würde, mit einer solchen Kreatur zu sprechen.
    Panhyssir trat neben Vash. »Wir werden wie üblich drohen müssen, einen der anderen Gefangenen zu töten, wenn sie nicht kooperiert. Sie will die Kinder schützen, die der Autarch hat einsammeln lassen, also wird sie binnen kurzem nachgeben. Es ist jedes Mal das Gleiche.« Er lachte. »Aber es ist ja kein Dienst zu beschwerlich, wenn es ein Dienst am Großen Zelt selbst ist, nicht wahr, Minister?«
    »Natürlich, selbstverständlich«, sagte Vash und beobachtete das Mädchen. Sie wirkte nicht so, als wäre das Ganze nur ein tägliches Ritual: Sie wirkte verzweifelt und furchtbar verängstigt. Im Grund tat Vash Kindern nicht gern weh, jedenfalls nicht mehr, als die angemessene Züchtigung unbedingt erforderte. Diese ganze Sache mit dem mysteriösen Plan des Goldenen wurde von Tag zu Tag unappetitlicher.
    Vash schüttelte den Kopf, verärgert über seine eigenen Gedankenabschweifungen. »Die Sache ist die, Oberpriester Panhyssir, ich wollte Euch fragen, ob Ihr in letzter Zeit auch solche ... Kommunikationsprobleme hattet wie ich.«
    Der Priester sah ihn an, die Augen ausdruckslos, das Gesicht sorgsam neutral. »Was genau meint Ihr, Oberster Minister Vash?«
    »Jeden Tag schicke ich Briefe ins oberirdische Hauptlager, Anweisungen an meine Untergebenen, protokollarische Auskünfte an Leute, die in irgendeiner Weise mit dem Großen Zelt selbst zu kommunizieren wünschen. Ich bin sicher, bei Euch ist das ganz ähnlich.«
    Panhyssir zuckte die Achseln. »Die meisten meiner Priester sind hier«, sagte er und deutete mit seiner fetten Hand im Heiligtum umher, das sich mit all den Kerzen, Dekorationsobjekten und religiösen Statuen, die es inzwischen enthielt, kaum von einem großen Nushash-Tempel zu Hause unterschied. »Natürlich sind dort Priester des Großen Gottes, die den geistlichen Dienst an den Truppen versehen, aber die bedürfen nur selten meiner führenden Hand.«
    »Dann war es vielleicht für Euch nicht so auffällig wie für mich.«
    »Was?«
    »Dass Briefe nicht beantwortet werden. Fast zwei Tage habe ich schon keine Antwort mehr aus dem Hauptlager bekommen. Ich habe beim Kuriercorps nachgefragt, und die sagen, ihre Männer sind die letzten beiden Tage dorthin aufgebrochen, aber bis jetzt nicht

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