Das Herz
meisten anderen hatten sich nicht daran gehalten, was Ferras Vansen nicht gefiel. Es war weniger der Geruch von Schweiß und Blut und Unangenehmerem, der ihn störte — als Soldat gewöhnte man sich schnell an den Gestank vieler zusammengepferchter Männer, vor allem auf so engem Raum wie in diesem Labyrinth. Er fürchtete vielmehr, seine nicht militärisch geschulten Funderlingssoldaten, die schon so lange und so tapfer auf verlorenem Posten kämpften, gäben allmählich auf.
Ferras Vansen konnte es keinem verdenken. Schlegel Jaspis hatte fast die Hälfte seiner Zunftwächter verloren, Männer, die er selbst für diese Aufgabe ausgebildet hatte. Malachit Kupfers Hausmacht war ebenfalls halbiert, und unter den Gefallenen war auch Kupfers Schwager, zu Tode gehackt, während er, auf dem Rücken liegend, um Hilfe gerufen hatte; falls Kupfer lebend hier herauskam, musste er seiner Schwester die schreckliche Nachricht überbringen. Viele andere Funderlinge waren Mönche, die nicht damit gerechnet hatten, je wieder den Tempel zu verlassen, geschweige denn in einen Krieg mit Großwüchsigen hineingezogen zu werden, und die restlichen waren Freiwillige, junge Funderlingsburschen, die noch nicht einmal in der Steinhauerzunft waren.
Vansen beobachtete, wie zwei Mönche unter den wachsamen Augen des jungen Kalomel den verletzten Zinnober vorsichtig auf seiner Trage festschnallten. Die letzten Tage hatten die Funderlinge gelehrt, dass Rückzug, selbst unter Vansens erfahrener Führung, oft eine plötzliche, unvorhersehbare Angelegenheit war, und da andererseits das einzig Sichere auf diesem Feldzug war, dass ein Rückzug erfolgen würde, bereiteten sie sich nach besten Kräften darauf vor. Der Mönch Sinter kniete in ihrer Nähe und führte das Gebet einiger anderer Metamorphosebrüder an; als er damit fertig war, rief Vansen ihn zu sich.
»Tut mir leid, wenn ich Euch härter behandelt habe, als Ihr es verdient«, erklärte er dem jungen Mönch. »Tatsächlich habt Ihr Eure Sache gut gemacht. Ich bedaure, dass Ihr und die anderen Mönche das hier auf Euch nehmen müsst.«
Sinter versuchte, tapfer zu lächeln, was ihm jedoch nicht so ganz gelang. »Unser Glaube lehrt, dass Vergangenheit und Gegenwart in Momenten wie diesem am engsten beisammen liegen, deshalb ist es natürlich schmerzlich, unter denen zu sein, die in den Falten der Geschichte gefangen sind. Da sind wir den sengenden Flammen des Ewigen besonders nahe.«
Vansen hatte keine Ahnung, was das heißen sollte. Seine Vorstellungen von den Göttern beschränkten sich weitgehend auf das, was ihm die Priester erzählt hatten, gepaart mit einem gewissen Zweifel an der Zweckmäßigkeit jedweder komplizierten Hierarchie, auch einer himmlischen. Er nickte, weil ihm nichts Besseres einfiel, und wechselte das Thema. »Wir können nur noch die letzte Höhlenkammer verteidigen — die Offenbarungshalle, wie Ihr es nennt —, dann werden sie uns ganz aus dem Labyrinth vertreiben.«
»Hauptmann!« Einer von Dolomits Männern kam schwitzend angetrabt. »Sie brechen jetzt durch die letzten Gesteinstrümmer! Die Wachen sagen, sie kommen
bald.«
Vansen empfand es wie den letzten Ton einer Terz — etwas, das er erwartet, ja fast schon herbeigesehnt hatte. Bald würde er nicht mehr seine eigenen Fehler fürchten müssen. Bald würde er nicht mehr brave Männer sterben sehen müssen. Er hatte alles gegeben, was er hatte. Daran konnte doch nichts Schmähliches sein ... oder?
»Alle Mann in den hinteren Teil der Halle!« Er hob die Stimme, damit ihn möglichst viele Männer hörten. Während die hintersten, die ihn hören konnten, denen zuriefen, die es nicht konnten, fuhr Vansen fort: »Löscht sämtliche Fackeln und geht alle hinter der ersten Barrikade in Stellung. Dort werden wir uns verschanzen und kämpfen.«
Jaspis grinste schmallippig und sah den Mönch Sinter an, dem bei dieser Aussicht ziemlich flau zu werden schien. »Und wie wir das tun werden!«, sagte der Wachführer. »Davon werden sie in Funderlingsstadt und Xis noch lange reden!«
Furcht verbreitete sich in der Höhlenkammer wie Wellenringe auf einem Teich, aber niemand zögerte: Binnen Augenblicken begaben sich alle einigermaßen geordnet zur vordersten Barrikade.
Sinter sah Vansen an, und sein Mund zitterte. »Wir werden alle in dieser Halle sterben, stimmt's?«, sagte er leise. »Hier, wo ich initiiert worden bin — wo ich ein Mann wurde.«
»Niemand weiß, wann seine Zeit um ist und was die Götter planen.«
Weitere Kostenlose Bücher