Das Herz
Barrick einen Eindruck davon, wie sie Chaven wahrnahm: als jemanden, der etwas Schemenhaftes in sich trug, wie eine zweite Silhouette. Konnte das allein die Anwesenheit der Statue sein?, fragte sich Barrick. Was war das für ein Ding? War es ein schrecklicher Fehler gewesen, es vor seinen Verbündeten zu verbergen?
Im diesem Moment hätte er Aesi'uah beinahe eingeweiht, aber er schämte sich zu sehr, dass er sie alle hintergangen hatte, weil er so fasziniert von diesem Ding war und es unbedingt in seiner Nähe behalten wollte, bis er verstand, was es in ihm auslöste. Also fragte er stattdessen: »Werdet Ihr das Saqri erzählen?«
»Ich weiß nicht.« Aesi'uah erhob sich, kreuzte die schlanken, grauen Hände vor der Brust und verneigte sich. »Es bleibt nicht mehr viel Zeit. Ich frage mich, ob ich mich in Kleinigkeiten verrenne, weil ich mich zu sehr davor fürchte, dem Großen ins Gesicht zu sehen. Es wird merkwürdig sein, in dem Wissen zu sterben, dass mein ganzes Volk mit mir untergeht, dass niemand von uns je wieder auf den Hängen von M'aarenol tanzen oder an Mittwinter in den Höhlen über dem Kalten Meer singen wird. Fahrt wohl in den verbleibenden Stunden, Barrick Eddon. Möge Euer Tod ein schneller sein.«
Und damit verschwand sie, so anmutig und lautlos wie ein Geist, der über einen vergessenen Friedhof schwebt.
Schließlich nahm Briony sieben Tempelhunde mit: Stephanas, einen weiteren Ritter namens Gennadas und fünf Fußsoldaten. Stephanas schien erfreut, sie begleiten zu dürfen; vielleicht sah er sich ja schon als denjenigen, der Herzog Hendon ergriffen hatte, eine der wenigen Taten in diesem verwirrenden Kampf, die man zu Hause verstehen und über die man reden würde.
Die Mittsommertagssonne hatte längst den Mittagspunkt überschritten und neigte sich bereits den westlichen Mauern zu, als sie den Palast verließen. Noch immer donnerten Kanonen, krachten ihre Geschosse gegen Mauern und Türme, manche so nah, dass Briony Steinsplitter über ihren Kopf hinwegzischen hörte, ohne jedoch enträtseln zu können, wer da gerade feuerte. Waren es Durstin Kreys Männer in Funderlingsstadt, die die Hauptburg beschossen, weil sie wussten, dass die Syanesen den Palast eingenommen hatten? Oder war es eins der wenigen noch nicht gesunkenen Südländerschiffe, das jetzt aus schierem Hass die Burg beschoss?
Die wichtigere Frage jedoch lautete: Wo war Hendon Tolly? Sie hatte angenommen, dass er am Vortag aus der Hauptburg geflohen war, als sich abzeichnete, dass sich die Syanesen nicht so leicht abwehren ließen, aber keiner der eddontreuen Männer am Rabentor oder am Basiliskentor hatte ihn gesehen. Also war Hendon vielleicht in Verkleidung geflohen oder wartete immer noch irgendwo in der Hauptburg auf eine Gelegenheit, sich im allgemeinen Durcheinander hinauszuschleichen. Aber wie der Funderling Chert gerade demonstriert hatte, gab es noch andere Wege in die Burg und hinaus, Wege, von denen sie nichts geahnt hatte. Selbst wenn sie irgendwie überlebte und den Familienthron zurückeroberte, würde sie nicht mehr ruhig schlafen können, ehe jeder einzelne Tunnel kartiert war.
Die Hauptburg war noch immer voller Flüchtlinge, Menschen aus der ländlichen Umgebung, aus Südmarkstadt und auch aus der Vorburg; überall mussten sie sich einen Weg durch den Gestank und die Stimmen verängstigter Menschen bahnen. Manche erkannten sie oder ahnten zumindest, wer sie war — Briony hielt sich nicht damit auf, ihre Vermutungen zu bestätigen —, und nach einer Weile schlang sie sich ein Tuch ums Gesicht. Sie wollte bei der Suche nach Hendon Tolly keine Prozession von Gratulanten und Schaulustigen hinter sich herschleppen.
Ihr war immer noch nicht klar, warum Hendon den kleinen Alessandros entführt hatte. Brionys verängstigte Stiefmutter hatte von der Anrufung eines Gottes geredet und von magischem Blut. Auch ihr Vater hatte so etwas gesagt. War Hendon Tolly demselben Wahn verfallen wie der Autarch von Xis? Oder, schlimmer noch, war es gar kein Wahn?
Dummes Weib. Hör auf damit.
Sie machte sich nur selbst verrückt. Sie musste Hendon Tolly finden; sie brauchte keine magischen Schreckgespenster, um sich zu beeilen.
Etliche Stunden waren vergangen, und das letzte Tageslicht war schon fast erloschen. Als Briony, Stephanas und die anderen die fruchtlose Suche in den Palastgärten beendeten und sich auf den Rückweg ins Zentrum der Hauptburg machten, frischte der Seewind auf. Es war ein warmer Abend, aber dichte Wolken
Weitere Kostenlose Bücher