Das Herz
verdunkelten den Himmel. Die Luft war so feucht, als stünde ein Gewitter bevor.
Die Kanonen donnerten noch immer, als sie den Säulengang durchquerten und in die engen Gassen zwischen Waffenkammer und Thronsaal hinaustraten. Einer der großen Bäume an der Ecke des Thronsaalgebäudes, an der die Erivor-Kapelle lag, erregte Brionys Aufmerksamkeit — im Geäst flatterte etwas Helles, als ob es sich verzweifelt nach den Dächern und der Freiheit reckte. Es schien ihr nicht weiter wichtig — in der Burg flogen eine Menge Fetzen umher —, aber sie spähte immer noch im schwindenden Licht dort hinauf, als die Kanonenkugel einschlug. Ein langsameres, lauteres Geschoss war eben, kreischend wie eine von Kernios' knochenklappernden Töchtern, über sie hinweggeflogen und im äußeren Palastgarten hinter ihnen verschwunden. Plötzlich zerbarst die Mauer des Thronsaals in heuwagengroße Stücke, die Ritter Gennadas und drei von Brionys syanesischen Fußsoldaten begruben, während mit einem Trümmerhagel weitere menschliche Körper aus dem Gebäude geschleudert wurden.
Stephanas, Briony und die anderen beiden Soldaten versuchten die
Männer herauszuziehen, mussten aber rasch einsehen, dass es hoffnungslos war. Ein schmutzstarrender Priester löste sich aus der Menge der obdachlosen Flüchtlinge, kam herbei und sprach Gebete über die Toten. Andere versuchten im Licht von Laternen, die übrigen Opfer auszugraben, die sich im Moment des Einschlags hinter oder an der Mauer des großen Thronsaals befunden hatten.
Überwältigt vom Staub und Blutgeruch zog Briony sich ein paar Schritte zurück, um zu Atem zu kommen. Ein Teil der Mauer war nur eine Armlänge neben ihr heruntergekommen, hatte Gennadas erschlagen, sie jedoch verschont. Sie hatte sich ihren Tod immer als etwas Persönliches vorgestellt, etwas, dem sie mutig ins Auge blicken würde, wie es sich für eine Eddon geziemte. Dass der Tod so schnell und so gleichgültig zuschlagen konnte, dass er grundsätzlich imstande war, nicht nur sie, sondern zugleich auch noch etliche Fremde auszulöschen, war ihr nie in den Sinn gekommen.
Briony merkte, dass sie sich ein ganzes Stück vom Ort der Zerstörung entfernt hatte und dass sie zitterte, als ob es plötzlich eiskalt geworden wäre. Das ging nicht — sie war schließlich eine Prinzessin. Das hier waren ihre Leute, sie hatte kein Recht, sie einfach allein zu lassen, auch wenn sie noch so verängstigt war.
Als sie kehrtmachte, sah sie neben sich etwas flattern — das helle Etwas im Baum, das ihr vorhin aufgefallen war. Vom Einschlag der Kanonenkugel losgerüttelt, war es ein Stück herabgeschwebt, ehe es sich erneut in den Zweigen verfangen hatte. Es war ein Schal oder etwas Ähnliches, einst zweifellos kostbarer Besitz einer Frau, jetzt herrenloses Treibgut wie so vieles andere auch. Sie ging hin, zog ihn gedankenverloren herab, wunderte sich, wie etwas so Zartes und Feines inmitten dieses zerstörerischen Irrsinns überdauern konnte, wenn dicke Steinmauern es nicht vermochten.
Vielleicht kann man etwas daraus lernen,
dachte sie und blickte geistesabwesend auf die feine Textur des Tuchs. Für einen Wollschal war es klein, und in das Muster aus Blumen und Vögeln waren die Initialen der Eigentümerin eingewirkt. Nein, das war gar kein Schal, es war eine dieser Namensgebungsdecken, in die die Kinder für die wichtige religiöse Zeremonie eingewickelt wurden, und diese hier trug, was ungewöhnlich war, vier Initialen: OABE.
Ihr Herz stockte, als könnte es jeden Moment ganz aussetzen. Sie rang nach Luft. War das möglich? Wer außer einem Königskind hatte schon vier Namen? Und was wäre stimmiger für den kleinen Alessandros, als auch den Namen seines Vaters zu tragen — Olin. Und Anissas Vater hieß Benediktos ...
Olin Alessandros Benediktos Eddon. Es war Alessandros' Decke.
»Stephanas!«, rief Briony. »Kommt her!«
Ihr Tonfall ließ Stephanas und die anderen beiden Soldaten prompt reagieren. Sie kehrten den Totenriten für ihre Kameraden den Rücken und rannten zu ihr. Briony zeigte ihnen die Decke, drehte sich dann um und blickte die zerstörte Mauer entlang zu dem dunklen Areal mit verwilderten alten Bäumen und nur einigen wenigen Lichtern. Selbst die Obdachlosen scheuten offenbar davor zurück, an einem solchen Ort zu kampieren.
»Der Friedhof?«, fragte Stephanas. Die Vorstellung schien ihn nicht gerade zu begeistern.
»Das bietet sich an. Es gibt dort etliche Gruften, die groß genug sind, um sich darin
Weitere Kostenlose Bücher