Das Herz
sogar ein paar südmärkische Soldaten, alle dreckig und ausgemergelt, alle eifrig bestrebt, ihre Retter willkommen zu heißen, und alle doppelt erfreut, als sie Briony entdeckten. Eneas und sie waren kaum ein paar Schritte durch das laute, immer weiter anwachsende Gewühl gekommen, als sich eine kleine Frau, jammernd wie ein Totengeist, vordrängte und sich, ohne Briony eines Blickes zu würdigen, dem syanesischen Prinzen zu Füßen warf.
»Er hat mein Baby genommen!«, jaulte die Gestalt. »Hat mich eingesperrt. Hat mir geraubt meinen Augenstern Alessandro! Haltet ihn!«
Briony starrte sie erstaunt an. »Anissa?«
Wenn die Prinzessin verblüfft war, so galt das erst recht für ihre Stiefmutter, die beim Klang von Brionys Stimme zusammenschrak, als hätte sie einen Geist gehört. »B-Briony? Bist das wirklich du? Wir ... wir dachten ...«
»Das glaube ich wohl. Was heißt, er hat dir dein Baby genommen?«
»Mein Baby Alessandro! Olins wunderhübscher Sohn! Hendon Tolly hat ihn gestohlen! Oh, Götter, so hilf mir doch jemand!«
Jetzt brachten auch andere ihre Leidensgeschichten vor: Immer mehr Stimmen erhoben sich, bis Briony kaum noch klar denken konnte. »Schweigt!«, schrie sie. »Alle miteinander! Anissa, erzähl mir, was passiert ist — erzähl mir alles.«
»Er hat mein Baby genommen. Er hat gesagt, es ist wegen Blut — weil Alessandros Blut magisch ist, ich weiß nicht. Zu beschwören den Gott. Ich habe ihn nicht verstanden!« Sie begann haltlos zu schluchzen und hörte nicht auf, bis Briony sie kräftig schüttelte.
»Was macht Ihr da?«, mahnte Eneas. »Tut ihr nicht weh!«
»Sie wird noch Stunden so weitermachen, und wir haben keine Zeit für ihr Geflenne.« Sie wandte sich an die Königin. »Anissa, sieh mich an. Wenn du willst, dass ich dein Kind rette, musst du mir sagen, wo Hendon ist!«
»Aber das weiß ich nicht!«, jammerte die Königin. »Er hat mich eingesperrt in meinen Räumen!«
»Er hat den Palast verlassen«, sagte eine andere, nicht minder vertraute Stimme.
Briony wandte sich um und erblickte direkt hinter sich den hünenhaften Mann, dem die Höflinge und Soldaten Platz gemacht hatten. »Graf Brone«, sagte sie. »Ihr seid also am Leben.«
»Das scheint Euch nicht sonderlich zu freuen, Prinzessin Briony, obwohl ich meinerseits sehr froh bin, Euch zu sehen.« Der alte Edelmann war noch fetter geworden, und auch nur die Treppe hinabzusteigen, schien ihn bereits ins Schwitzen gebracht zu haben. Seine Haut hatte einen ungesunden Gelbstich. »Sei's drum, für Diskussionen haben wir keine Zeit. Einer meiner Männer hörte Tolly davon sprechen, dass er das Kind brauche, um einen Gott zu beschwören, genau wie Königin Anissa sagt. Tolly hat den Palast schon vor Stunden in Begleitung einiger Wachen verlassen ...«
»Wir haben ihn nicht gesehen, und unsere Männer am Basiliskentor haben Anweisung, niemanden aus der Burg hinauszulassen«, sagte Briony. »Er muss noch hier sein. Eneas, gebt mir ein paar von Euren Männern — Stephanas hat mir schon einmal gute Dienste erwiesen, und ich würde ihn gern wieder in Anspruch nehmen. Ich werde Tolly finden.«
»Ich begleite Euch«, sagte Eneas. »Ja es wäre sogar sinnvoller, wenn ich den Usurpator jage und Ihr hier in der Burg Eures Vaters die Ordnung wiederherstellt ...«
»Es wird keine Ordnung geben, ehe Hendon Tolly gefasst und der Sohn des Königs in Sicherheit ist. Es ist an den Eddons, den Verräter seiner gerechten Strafe zuzuführen — und ich bin hier die einzige Eddon.«
»Aber das ist töricht, Briony! Ich kann Euch nicht ...«
»Nein, verflucht!« Sie trat einen Schritt auf ihn zu. »Nein! Ihr seid der Prinz von Syan, aber Ihr seid weder mein Ehemann noch mein Bruder oder Vater. Ich nehme gute Leute mit — ich bin nicht töricht, Eneas. Aber Hendon gehört mir.«
Sein Gesicht war hart vor Zorn, aber er sagte nichts, ehe er sich wieder im Griff hatte. »Nehmt Helkis auch mit. Mir ist nicht wohl mit Eurer Entscheidung, Prinzessin.«
»Mir auch nicht. Stephanas, Ihr da, kommt — wir müssen uns beeilen.« Doch im Gehen sah sie Avin Brone an Eneas herantreten, so massig und so groß, dass er sich selbst zu dem Prinzen hinabbeugen musste, um ihm etwas ins Ohr zu flüstern, eine Gestalt wie ein boshafter Bär, der sich als Mensch auszugeben versuchte. Briony zog sich der Magen zusammen.
»Ich habe es mir anders überlegt«, flüsterte sie Helkis zu. »Ihr müsst hierbleiben, Miron. Hier nützt Ihr mehr, als wenn Ihr
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