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Das Herz

Das Herz

Titel: Das Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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Beeilung!«
    Kettelsmits Magen rebellierte so heftig, dass er fürchtete, sich gleich übergeben zu müssen, und sein Kopf war voller wirrer, panischer Gedanken, aber er wickelte den zappelnden Thronerben ein wenig fester in seine Decken und folgte Hendon Tolly hinab in die Gruft.
    Tolly führte ihn in die alte Gruftkammer, die hinter jener vorderen Kammer lag, wo Okros Dioketian gestorben und Kettelsmit selbst vom zurückkehrenden Reichshüter ertappt worden war. Die alte Gruft war größer und höher als die Vorkammer, eine sechseckige Höhle; jede der sechs Wände war wie eine steinerne Wabe, Nische an Nische, und jede der Nischen enthielt einen Stein- oder Bleisarg. Die meisten der alten Särge trugen keine Figur des Verstorbenen, und auch nur wenige hatten Inschriften; die, die hier ruhten, großenteils Könige und Königinnen von Südmark, waren jetzt namen- und gesichtslos.
    »In diesem Raum ist schon seit Jahrhunderten niemand mehr beigesetzt worden«, erklärte Tolly, während er, die Hände hinterm Rücken verschränkt, langsam in der sechseckigen Kammer umherschlenderte wie ein müßiger Spaziergänger. »Die vordere Kammer wurde erst von Kellick erbaut, was heißt, dass der große Anglin in einem
dieser
Löcher vor sich hinbröselt.« Er sah Kettelsmit an, um zu prüfen, ob ihn die Blasphemie schockiert hatte. »Aber in welchem weiß niemand!« Tolly lachte. »Ganz egal, wie berühmt man im Leben ist, im Tod ist man namenloser Staub!« Das Kind in Kettelsmits Armen weinte jetzt richtig, das stoßweise Schluchzen war in ein einziges Heulen übergegangen. »Bei Perins Bart, Dichter, wirst du das verdammte Balg gefälligst mal schütteln?«, sagte Tolly mit finsterer Miene. »Mach, dass es still ist.«
    Matty Kettelsmit hielt das kleine Wesen unsicher im Arm. Woher sollte jemand wie er wissen, wie man einen Säugling beruhigte? »Muss er hier sein, Herr?«
    »Was brabbelst du da?
Natürlich
muss er hier sein — ohne ihn können wir das Ritual nicht vollziehen! Das wäre ja wie ein Mahl ohne Braten!« Tolly schloss die Augen, als wäre das alles zu viel für seine Nerven, ließ sie aber erstaunlich lange zu, und als er sie wieder öffnete, blitzten sie bedrohlich. »Ich sagte, bring dieses Kind zum Schweigen!«
    Kettelsmit fiel nichts anderes ein, als dem kleinen Wesen seinen Zeigefinger in den Mund zu stecken. Diesen Trick hatte er Brigid beim Kind ihrer Schwester anwenden sehen. Der kleine Alessandros hickste und schluchzte auch mit dem Finger im Mund noch weiter, beruhigte sich aber allmählich.
    Tolly streckte die Hand aus, und einer der Leibwächter reichte ihm einen Sack, den er getragen hatte. »Wo ist dieser andere Idiot? Er sollte längst hier sein.«
    »Herr ...?«
    »Mund halten, Dichter, ich rede nicht mit dir. Also?«
    Der Mann, der ihm den Sack gegeben hatte, wand sich unter dem sengenden Blick seines Herrn. »Dell? Der ist bestimmt gleich da, Herr ...«
    Tolly brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. »Genug. Geht und wartet draußen auf ihn, alle beide. Ich habe mit Meister Kettelsmit zu reden.«
    Die Wachen, nur zu froh, der alten Gruft zu entkommen, eilten davon. Kettelsmit hörte sie die Stufen von der neuen Gruftkammer ins Freie hinaufrennen. Als ihre Schritte verklangen, wurde ihm schmerzlich bewusst, dass er mit einem gefährlichen Irren unter der Erde gefangen war — noch dazu in einer Totenkammer!
    »Es ist gleich so weit«, sagte Hendon Tolly nach einem Weilchen. »Hast du die Glocke gehört, als wir hierhergekommen sind? Das muss zehn Uhr gewesen sein. Inzwischen dürften die Syanesen den Palast eingenommen haben — sie werden ja sehen, was ihnen das nützt!« Der Reichshüter lachte. In letzter Zeit hatte er seinen Bart nicht mehr gestutzt und auch nicht mehr auf seine Kleidung geachtet. Zerlumpt und ziemlich ungepflegt, war Hendon Tolly kein Spiegelbild tessischer Hofmode mehr. »Sie werden sich in die Brust werfen und sich als Eroberer fühlen, so wie sich dieser xixische Hund unter unseren Füßen für den Auserwählten der Götter hält — aber sie irren sich alle! Weil ich nämlich gewinnen werde. Die Gunst der Göttin wird mein sein!«
    Kettelsmit hatte den Überblick verloren, was sein schrecklicher Herr mit diesem grausigen Opfer erreichen wollte. Manchmal redete er, als ob ihm die Göttin Zoria persönlich zu Diensten sein würde, dann wieder, als würde er selbst ein Gott werden. Kettelsmit hätte das vielleicht alles als das wirre Geschwafel eines Verrückten

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