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Das Herz

Das Herz

Titel: Das Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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musste an den überdachten Säulengang rings um den Marktplatz von Xis denken, wo sie als Kind umhergetollt war und wo man an bestimmten Stellen das leise Streiten von Händlern um den halben Platz herum hören konnte.
    Wie war aus dem kleinen Mädchen, das barfuß und lachend mit den Nachbarskindern auf dem Bazar Fangen gespielt hatte, dieses jämmerliche Etwas geworden, das in einem Käfig saß und nie wieder Sonnenlicht sehen würde, so wie die Vögel, die die Bergleute in den Kupferminen mit ins Dunkel hinabnahmen?
    Die Götter bestrafen mich — aber ich habe nichts getan.
Es erfüllte sie mit Wut.
Ich bin unschuldig, und der arme Spatz war es auch! Die Götter sind es, die mir das hier angetan haben!
    Qinnitan rutschte näher an die Hartholzstäbe ihres Käfigs und presste das Gesicht dagegen. Schemenhaft erkannte sie den Käfig des Nordländerkönigs, nur wenige Schritte entfernt; er schwankte auf den Schultern eines halben Dutzends Träger, genau wie ihrer. Unter den Füßen der Träger knirschte der schotterbestreute Weg, den die Sklaven des Autarchen angelegt hatten. Sulepis hatte trotz seiner Eile eine breitere Straße in die Erde hinab bauen lassen, nur damit er und seine Männer bequemer vorwärtskamen. Tonnen und Abertonnen Gestein hatten abtransportiert werden müssen.
    Qinnitan hatte etliche der Wagen gesehen. Es war unfassbar, dass jemand bereit war, für einen Weg, der einmal benutzt werden würde, tausend Männer tagelang schuften zu lassen und den Tod Dutzender in Kauf zu nehmen.
    »Gefällt Euch unsere Straße, König Olin?«, rief sie hinaus.
    »Seid Ihr das, Fräulein Qinnitan?« Sie hatten ein paarmal miteinander geredet, wenn ihre Käfige nah genug beisammen waren. Sie beherrschte die Nordländersprache jetzt schon viel besser als damals in Hierosol. Es war ihr peinlich, dass sie bei ihrer ersten Begegnung so sprachlos gewesen war.
    »Wer sonst?«
    Sie hörte ihn leise lachen. Ein paar seiner Träger blickten herüber: Es ärgerte sie sichtlich, dass die Gefangenen schwatzten und scherzten, während sie sich abplagen mussten.
    Aber ihr würdet dennoch nicht tauschen wollen.
Laut sagte sie: »Der Goldene macht eine große Straße in diesen Berg. Hat er nicht Angst, dass der Berg auf seinen Kopf fällt?«
    »Er scheint vor gar nichts Angst zu haben«, sagte Olin. »Bei einem anderen würde ich das bewundern, aber ich glaube, Euer Goldener ist überzeugt, dass überhaupt nichts gegen seinen Willen passieren
kann.«
    »Er ist nicht
mein
Goldener«, sagte sie. »Er ist ein Schwein — ein verrücktes Schwein!« Sie wiederholte es für die Träger noch lauter auf Xixisch. Ein paar kamen vor Schreck aus dem Tritt.
    »Ich wollte, Ihr würdet das lassen«, sagte Olin.
    »Warum? Was kann Sulepis machen?« Und in diesem Moment fürchtete sie wirklich weder ihn noch irgendwelche Folterqualen, denen er sie ausliefern könnte. »Wir sind doch schon so gut wie tot. Niemand kann uns mehr als einmal töten, auch nicht der Autarch!«
    »Nicht deshalb. Als Ihr das eben gesagt habt, hätten mich meine Träger beinah in diesen Abgrund fallen lassen. Ihr könnt sie wahrscheinlich von dort drüben nicht sehen. Jedenfalls möchte ich lieber nicht auf diese Weise sterben.«
    Weil Ihr befürchtet, dass ich dann die Opferziege beim Ritual des Goldenen abgeben müsste.
Sie wusste, darum ging es ihm in Wirklichkeit. Aber sie sagte nur: »Entschuldigt, König Olin, ich versuche, es nicht wieder zu tun.«
    Sie schaukelten eine Weile weiter, ehe sie sagte: »Ihr habt einmal gesagt, ich erinnere Euch an — Eure Tochter? Ist das das Wort? Euer Mädchen-Sohn?«
    Er lachte wieder. Sie konnte ihn jetzt nicht richtig sehen. Die nächste Fackel war hinter ihm, und sein Gesicht lag im Schatten. »Mein Mädchen-Sohn. Es ist lustig, dass Ihr das sagt, weil sie nie gern Frauenkleider getragen hat.«
    »Wirklich? Sie ist wie ein Mann?«
    »Nur insofern, als sie ihren eigenen Verstand benutzen will, statt einen Mann für sich denken zu lassen.« Olins Stimme wurde wärmer. »Ihr würdet sie mögen. Nach dem, was Ihr mir erzählt habt, seid ihr beide euch sehr ähnlich. Wie Ihr ist sie ihren Feinden immer wieder entkommen.«
    »Ihr seid stolz über sie.«
    »Ja, das bin ich. Und auf ihren Bruder auch, obwohl ich Euch von ihm noch nichts erzählt habe. Er hatte schon als Kind eine größere Last zu tragen, als sie selbst einem erwachsenen Mann aufgebürdet werden sollte.« Der König schwieg ein Weilchen. »Ich habe ihm unrecht getan,

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