Das Herz

bist, sind dafür gestorben, dass du Vaters Thron zurückgewinnen konntest? Und wie viele andere haben ihr Leben gelassen, weil die Tollys diesen Thron an sich bringen wollten? Und wie viele Qar sind gestorben, weil unser Vorfahre die Qar-Prinzessin Sanasu ihrer Familie geraubt hat?«
    Ihr fiel plötzlich etwas ein, das ihr Vater bei ihrem letzten Gespräch gesagt hatte. »Es gibt da etwas, das du wissen solltest ...«
    Doch Barrick schien sie gar nicht zu hören. »Aber wenn ich's mir recht überlege, spielt die Zahl der bisherigen Opfer ohnehin keine Rolle, weil die Qar irgendwann
alle
wegen der Unrechtstat unserer Familie gestorben sein werden. Wenn ich also von der Schuld, in der die Eddons gegenüber Saqri und Ynnir und selbst Yasammez stehen, auch nur einen Teil bezahlen kann, muss ich es tun.«
    Zorn spülte die eben aufgetauchte Erinnerung weg. »So sprichst du von
Yasammez?
Dem Ungeheuer, das so viele Südmärker ermordet hat?«
    Er winkte ab. »Geh, Briony — du kannst es nicht verstehen. Wir haben uns nichts mehr zu sagen. Bald werden die Qar von hier verschwinden, und ich werde mit ihnen gehen. Ihr könnt eure Häuser in Frieden wiederaufbauen — wir sind zu wenige, um die Menschen je wieder zu belästigen.«
    »Als ich dich gesehen habe, Barrick, war ich erstaunt, wie sehr du dich verändert hattest«, sagte sie. »Aber jetzt ist mir klar, dass du in den wichtigsten Dingen kein bisschen anders bist. Du interessierst dich immer noch ausschließlich für deine eigenen Sorgen, und du läufst immer noch vor Liebe und Freundlichkeit weg, als wäre das ein Angriff«
    Das blasse Gesicht ihres Bruders zeigte nichts — er schien so ungerührt wie das Meer selbst. Briony wandte sich ab und verließ die Höhle.

46

Die durchscheinende Kerze
    »... Er beschied Zoria, wenn sie es fertigbringe, den Waisenknaben aus Kerniou hinauszuführen, könne dieser in die Welt und an die Sonne zurückkehren. Wenn sie aber zaudere oder aufgebe, müsse er für immer unter den Toten bleiben.«
    Der Waisenknabe, sein Leben und Sterben und himmlischer Lohn — ein Buch für Kinder
    Er fühlte, wie sie versuchte, nicht amüsiert zu sein, wusste aber nicht warum. Was genau Saqri belustigend fand, entzog sich ihm oft.
Deine Schwester ist wieder weg. Ist es nicht gut gelaufen?
    Ihr wisst es doch. Ich bin sicher, Ihr wisst es so gut wie ich.
    Ich war nicht dabei. Ich habe euch gefühlt, aber von fern. Trotzdem, die Emotionen waren gewaltig!
    Obwohl sie ihn neckte — auf diese nachsichtige Art, die sie ihm gegenüber hatte, seit sie schwer verwundet vom Schlachtfeld getragen worden war —, fühlte er, wie sie gegen ihre zunehmende Schwäche ankämpfte. Im Unterschied zu Saqri lernte er erst allmählich, Dinge höflich zu übersehen.
Spottet nicht,
teilte er ihr mit.
Ich leide.
    Natürlich leidest du. Aber es ist unnötig. Das Volk ist nicht mehr. Uns ist nie verheißen worden, dass wir alle im selben Moment enden würden, aber ich bezweifle nicht, dass dies unsere letzte Generation ist, zumindest für die Langlebigen. Ein paar von uns werden vielleicht noch Jahre überdauern, aber die Niederlage ist endlich da. Ihr Menschen tragt nicht ganz dieselbe Bürde wie wir, also verstehst du wahrscheinlich nicht, dass es für uns fast schon erleichternd ist, das Ende gekommen zu wissen. Ich bedaure, dass ich die letzte Blüte, die daraus erwachsen wird, nicht mehr mitbekomme — gewiss werden Kunst und Musik auf tausenderlei Art wundervoll und schrecklich sein!
    Doch wenn das Volk nicht mehr ist, Barrick Eddon, besteht für dich kein Grund mehr, dich zu opfern. Die Feuerblume all unserer Mütter wird bald erloschen sein. Und selbst wenn deine Zeit durch das, was mit dir geschehen ist, verlängert wurde, wird es dir eines nicht allzu fernen Tages ebenso ergehen — die letzte Feuerblume wird flackern und ersterben. Ohne das Licht der Feuerblume wird die Tiefe Bibliothek ein trüber Tümpel sein. Und ohne die Erinnerung daran, wer wir sind, werden wir dahinschwinden und sterben wie irgendwelche stummen Kreaturen. Der Gesang wird ohne unsere Stimmen weitergehen ...
    Es war, als ob sie immer älter würde, je weiter sie sich auf den Tod zubewegte. Sie schien jetzt fast schon so uralt wie Yasammez.
Vielleicht ist es ja die Nähe der Ewigkeit und dessen, was sie mit sich bringt, was auch immer das sein mag,
dachte er, teilte es ihr aber nicht mit.
    Wenn du lange genug bei dem sterbenden Mädchen verweilt hast,
übermittelte sie ihm,
komm zu mir Ich