Das Herz
Zosimia-Maske.
Wie etwas aus einem Theaterstück ...
Schritte schreckten ihn auf. Eine schlanke Gestalt näherte sich auf der Mauer, eine alte Frau dem Gesicht nach, aber ihr Gang war kraftvoll und mühelos. Kettelsmit merkte, dass er sie anstarrte, und blickte wieder aufs Meer hinaus. Die vom Frühsommerwind gepeitschten Wellen spien Schaum, wenn sie auf die äußere Mauer zurasten.
»Oh.« Die Frau hatte ihn bemerkt. »Verzeiht. Ich werde Euch allein lassen und mir ein anderes Plätzchen suchen.«
Kettelsmit schüttelte den Kopf Sie war älter als seine Mutter, aber er hatte es satt, mit seinen Gedanken allein zu sein. »Nein, bleibt doch, bitte. Seid Ihr Priesterin?«
»Zorienschwester«, sagte sie.
»Aha.« Er nickte. »Da fehlt es Euch ja derzeit bestimmt nicht an Betätigungsmöglichkeiten.«
»An Betätigungsmöglichkeiten fehlt es nie, weder jetzt noch sonst irgendwann.« Doch sie lächelte, als sie es sagte. Kettelsmit mochte diese Frau, mochte ihr ernstes, trauriges Gesicht. »Im Moment will ich allerdings gar nichts tun, außer ein bisschen Wind im Gesicht zu spüren.«
Kettelsmit nahm das als Bitte um Ruhe, also wandte er sich wieder ab und betrachtete das rastlose Meer. Die Leute sagten, das Meer habe jetzt die gesamten Tiefen unterhalb von Funderlingsstadt geflutet; seit er das gehört hatte, war er schon halb darauf gefasst, dass die Burg demnächst wegschwimmen würde wie ein von der Flut davongetragenes Boot.
»Sagt mir doch«, sagte er nach einer Weile, »wie ist das? Zu wissen, dass die Götter nicht da sind?«
»Bitte?«
»Ihr müsst doch gehört haben, was hier passiert ist. Es dürfte sich doch selbst in Eurem Zorienschrein herumgesprochen haben.«
Die Frau lächelte wieder. »O ja, das eine oder andere weiß ich darüber.«
»Dann sagt mir doch, wie Ihr Euch immer noch als Zorienschwester bezeichnen könnt, wenn wir jetzt erfahren haben, dass die Götter schlafen — dass sie schon seit Jahrtausenden schlafen. Dass Zoria selbst zu Anbeginn der Zeit von ihrem Gemahl getötet wurde. Dass alles, was uns die Priester über den Himmel erzählt haben, Lüge war.« Er konnte jetzt seine eigene Bitterkeit nicht im Zaum halten. »Niemand wacht über uns. Niemand wartet auf uns, wenn wir sterben. Niemanden kümmert, was wir auf dieser Welt tun, an Gutem wie an Bösem.«
Sie musterte ihn eingehend, trat dann etwas näher und stand jetzt schräg hinter ihm, sodass sie beide auf das bewegte, in der Nachmittagssonne wie Silber glitzernde Wasser hinausblickten. »Und was ist daran anders?«, fragte sie nach einer Weile.
»Wie meint Ihr das?«
»Inwiefern unterscheidet es sich von dem, was wir immer schon hatten, immer schon wussten? Die Götter kommen nur im Traum zu uns. Wir müssen an jedem einzelnen Tag unseres kurzen Lebens unsere eigenen Entscheidungen treffen. Ob sie diese Entscheidungen belohnen werden oder auch nur zur Kenntnis nehmen, wissen wir nicht. Ich sehe nicht, was da jetzt anders sein sollte.«
»Aber es
ist
anders! Es war alles Lüge. Wir haben gesehen, was uns die Priester zeigten, haben geglaubt, was sie uns erzählten, aber die Götter, die sie uns präsentiert haben, waren nur Puppen in einem Puppentheater. Jetzt haben wir nicht mal mehr die Puppen. Wir haben gar nichts mehr.«
»Wir haben die gleichen Probleme wie immer schon, junger Mann«, sagte sie scharf. »Wir haben die gleichen Nöte wie immer schon. Ich sehe, Ihr seid verwundet.« Sie zeigte auf den Hubbel des Wundverbands unter seinem Hemd. »Aber es gibt viele, die schlimmer verwundet sind. Sie brauchen Hilfe hier auf Erden, was auch immer die Götter tun mögen. Selbst wenn unser Glaube nie mehr war als ein Puppentheater, können wir doch daraus lernen. Und es ist möglich, dass auch die Götter selbst nur Theaterpuppen waren — dass hinter all dem ein höherer Plan steht, mit Euch und mir und allen anderen hier.« Sie schüttelte den Kopf. »Hört mich nur reden — sehr tröstlich, hm? Ich fürchte, ich bin aus der Übung.« Sie tätschelte ihm den Arm. »Passt auf Euch auf, junger Mann. Verzweiflung ist der einzige echte Feind. Macht Euch nützlich. Pflegt jemanden, der es nötiger hat als Ihr. Speist jemanden, der hungrig ist. Tut irgendetwas, das einem anderen hilft.«
Als die Frau gegangen war, merkte Kettelsmit, dass er immer noch über ihre Worte nachdachte.
»Wo sind Krey und die anderen Abtrünnigen jetzt?«, fragte Briony den Grafen Helkis, der von ihrem Kommen in Kenntnis gesetzt worden war und
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