Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Herz

Das Herz

Titel: Das Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
Vom Netzwerk:
möchte dich mit den Augen sehen.
    Er blieb noch eine ganze Weile an Qinnitans Lager stehen und versuchte, nicht zu denken. Bevor er ging, kniete er sich hin und nahm ihre Hand, aber die war so kalt und leblos, dass er es nicht ertrug, sie zu halten. Er küsste sie und legte sie ihr wieder auf die Brust.
    Saqri lag auf einem Bett, das ihr Barrick hatte bereiten lassen, obwohl sich die Zwielichtlerkönigin, wenn es nach ihr gegangen wäre, auf den nackten Stein hätte betten lassen, nur mit ihrem Mantel zugedeckt.
Wenn wir die Wahl haben, wie wir sterben wollen,
hatte sie gesagt,
bevorzugen wir, die wir den alten Sitten anhängen, die Elemente, so wie sie sind. Es ist gut, mit der Nachtkälte umgehen zu lernen, denn wenn der Tod kommt, bläst er uns auch mit seinem kalten Atem an. Wir lernen, uns weniger zu bewegen und mehr zu denken.
    Ihr habt aber keine Wahl,
hatte ihr Barrick erklärt, und so wurde dafür gesorgt, dass die Tochter der ersten Blume es warm und bequem hatte, weil sie zu schwach war, etwas anderes durchzusetzen.
Ich lasse Euch nicht an diesem Ort hier sterben,
hatte ihr Barrick geschworen.
Ich bringe Euch ins Haus des Volkes zurück.
    Dummer Junge. Wie Yasammez werde auch ich sterben, wenn das Buch sagt, dass ich sterben muss.
    Lügnerin. Ihr lebt noch, obwohl jeder andere längst den Fluss überquert hätte. Es ist die Kraft Eures Willens, die uns diese Zeit gibt, und das wisst Ihr.
    Du hast deine Schwester gesehen,
sagte sie.
Sie brennt heller, als ich gedacht hätte. Sie hätte eine gute Gemahlin für dich abgegeben.
    Barrick konnte sie nur anstarren.
Das ist widerwärtig.
    Nicht bei uns — nicht in unserer Herrscherfamilie. Ich habe Ynnir geliebt, bevor ich ihn hasste, und ich habe ihn gehasst, bevor ich ihn liebte. Ich kannte ihn jeden Augenblick meines Lebens. So eng waren wir miteinander verflochten. Aber ich verstehe — unsere Sitten sind nun mal nicht eure.
    Sagt nicht solche Dinge. Außerdem stehen wir uns nicht mehr so nah, sie und ich. Ich habe mich zu sehr verändert.
    Ach ja?
    Ihr wisst, dass ich mich verändert habe!
    Sie lächelte ihn an. Es war ein so minimales Dehnen ihrer Lippen, dass es einem weniger aufmerksamen Beobachter wahrscheinlich entgangen wäre.
»Alles ist vorhersagbar«, wie die Orakel sagen. Ich finde wirklich, du solltest bei deinen Leuten bleiben . . . verzeih, Barrick Eddon — bei deinen anderen Leuten.
    Niemals! Ich kann nicht mehr unter ihnen leben. Ich bin nicht mehr so.
    Sie fuhr fort, als hätte er nichts gesagt.
Es ist nicht abschätzig gemeint. Du hast dir die Zugehörigkeit zu uns mehr als verdient. Selbst die kleinsten und entlegensten Sippen des Volkes werden von dir wissen.
    Das war Barrick egal — was bedeutete schon Ruhm, wenn der Rest seines Lebens kaum mehr sein würde als ein einziger langer Trauerzug, da die Qar und ihr Wissen allmählich wegsterben würden? Und schließlich würde auch er sterben, entweder allein unter Angehörigen eines Volkes, an dessen Vernichtung seine Familie Schuld trug, oder als Fremder in seinem Geburtsland. In beiden Fällen würde er nicht zu denen gehören, die um ihn waren.
    Sei guten Mutes,
erklärte ihm Saqri.
Das Leben ist auch im besten Fall kurz. Selbst Yasammez' lange Lebensspanne war nur ein kurzes Flackern neben den Sternen, und auch die Sterne selbst werden eines Tages verlöschen.
    Was gab es auf eine so mitreißend optimistische Bemerkung zu sagen? Barrick nickte und wandte sich zum Gehen.
    Nein,
sagte sie.
Komm zurück. Bitte, setz dich zu
mir.
    Als er sich hingesetzt hatte, betrachtete er sie genauer. Saqri wirkte fast durchscheinend, wie eine Kerze, von der nur noch eine dünne Wand stand, weil der Docht im Inneren so weit heruntergebrannt war. Obwohl er wusste, dass ihr Blut so rot war wie seines, hätte man das jetzt nicht gedacht; sie wirkte gar nicht mehr wie ein Wesen aus Fleisch und Blut, eher wie das Blütenblatt einer weißen Lilie.
    Warum ist es alles so gekommen?,
fragte er schließlich.
    Sie brauchte nicht zu fragen, was er meinte.
Es musste so kommen, liebes Menschenkind. Das Gleichgewicht war zu labil, um ewig zu halten. Als Krummling starb, kam alles ins Wanken. Jetzt ist unsere Zeit vorbei.
    Aber warum? Auch ohne die beiden Hälften der Feuerblume muss doch für das Volk noch etwas bleiben! Sie brauchen sich doch nicht gleich hinzulegen und zu sterben.
    Wieder der Hauch eines Lächelns.
Nein, sich hinlegen und sterben müssen sie nicht, Barrick — aber unsere große Blütezeit ist

Weitere Kostenlose Bücher