Das Herz
das Einzige, was unzweifelhaft wahr war. »Glaubst du, für mich hätte sich nicht alles verändert, Barrick? Unser Vater ist tot. Ich bin als fahrende Schauspielerin zu Fuß bis nach Tessis und zurück gezogen. Leute haben mich zu vergiften versucht und mit Pfeilen auf mich geschossen. Ich habe eine Halbgöttin getroffen ...!«
»Ich kannte auch eine Halbgöttin«, sagte er. »Aber sie war nicht von der Sorte, die mit unseresgleichen Freundschaft schließt.«
»Unseresgleichen. Was du nicht sagst! Eben waren noch die Zwielichtler deine Leute, und jetzt redest du, als wüsstest du, wo du wirklich hingehörst! Du wirst dich entscheiden müssen, Barrick Eddon!«
»Das verstehst du nicht. Die Feuerblume ...«
»Ach!«
Sie wandte sich ab und ging ein paar Schritte davon, versuchte ihren Zorn zu bezwingen. »Ja, dir sind Dinge widerfahren. Aber mir auch. Bei Zoriens Barmherzigkeit, Barrick, ich habe Hendon Tolly eigenhändig getötet! Wenn dich das Feuer des Himmels verbrannt hat wie einst den Waisenknaben — stell dir vor, mich hat es auch verbrannt! Wir sind beide nicht mehr die, die wir waren! Aber so sehr hast du dich doch nicht verändert — dein Leid muss immer das anderer Leute weit übersteigen!«
Er drehte sich um: Sein Gesicht war hart vor Wut. »Erzähl mir nichts von Leid, Briony! Du wirst diesen Prinzen heiraten — ich habe doch gesehen, wie er dich anschmachtet und dir hinterläuft wie ein Kalb seiner Mutter. Du wirst Königin von Syan, und die Welt wird sich vor dir verneigen. Und was habe ich? Kümmert dich das überhaupt?«
»Barrick, das ist doch Blödsinn ...«
»Weißt du, was die Qar erwartet ... und mich? Saqri, die Königin des Volkes, liegt im Sterben. Sie hat sich geopfert, damit Zosim besiegt werden konnte — Dutzende von Pfeilen und Gewehrkugeln haben sie getroffen. Nur ihr Wille und ihre Liebe zu ihrem Volk halten sie noch am Leben. Wenn sie nicht mehr ist, ist auch die Hälfte dessen, was die Qar am Leben erhalten hat, nicht mehr. Nimm das zur Kenntnis — wenn du deine Hochzeit planst, begrabe ich meine Königin und meine Herzensgeliebte!«
»Deine Herzensgeliebte?« Briony konnte ihn nur mit offenem Mund angaffen. »Von wem sprichst du — doch nicht von dieser Saqri?«
»Du verstehst nichts«, sagte er verbittert. »Komm. Komm, ich zeige sie dir.« Er bedeutete Briony, ihm zu folgen, und führte sie in eine Nebenkammer, wo zwei weibliche Kreaturen, ähnlich gekleidet wie Aesi'uah, aber ihrer knochigen Gestalt wegen weniger menschenähnlich, schweigend neben einem Strohlager knieten. Auf dem Stroh lag, im Schummerlicht der wenigen Kerzen kaum erkennbar, ein zierliches Mädchen, das noch jünger sein musste als Barrick und sie.
»Das ist nicht Saqri«, sagte sie. »Das ist das Mädchen, das mit euch im Boot war.«
Er stand am Kopfende des Strohlagers und blickte auf das Mädchen hinab. »Saqri ist in der Mitte des Lagers, umgeben von ihren Leuten. Das hier ist ... der einzige Mensch, den es während dieses ganzen schrecklichen Alptraums wirklich gekümmert hat, ob ich am Leben blieb oder nicht. Sie heißt Qinnitan. Ein Jahr lang war sie in meinen Träumen und meinen Gedanken. Sie war meine Gefährtin, meine Freundin, meine ...« Er verstummte und schüttelte ärgerlich den Kopf. »Jetzt liegt sie im Sterben ... und wir haben nie leibhaftig miteinander gesprochen ... uns nie berührt ...« Er wandte sich jäh ab und ging hinaus.
Briony blieb noch stehen und sah auf das Mädchen hinab. Wenn es noch lebte, war nichts davon zu bemerken, keine Atembewegung, nichts von der Beseeltheit, die auch das Gesicht eines tief schlafenden Menschen noch zeigte.
Wer bist du?,
dachte Briony.
Und was warst du wirklich für meinen Bruder? Hättest du ihn geliebt? Hättest du für ihn gesorgt?
»Wie lange wird sie noch leben?«, fragte sie die beiden Qar-Frauen. Sie sahen zwar auf, aber keine von ihnen antwortete.
»Es tut mir leid, Barrick«, sagte sie, als sie wieder zu ihm stieß. »Das wusste ich nicht. Aber es ist ein Grund mehr ...«
»Hör auf, Briony, bitte.« Er entzog sich, als sie ihn am Arm berühren wollte. »Du willst sagen, es sei ein Grund mehr, mich an die Familie zu halten, die ich habe, aber du verstehst es nicht.
Ich bin nicht mehr einer von euch.«
»Ein was? Ein Eddon ...?«
Er lachte schroff. »Oh, ein Eddon bin ich sehr wohl. Wo ich gehe und stehe, leiden andere an meiner Statt. Das musst du doch mittlerweile kennen. Wie viele von den Männern, mit denen du hergekommen
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