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Das Herz

Das Herz

Titel: Das Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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Momente gegeben — intensive Momente, da ihre Blicke sich getroffen hatten und sie sich sicher gewesen war, dass da etwas zwischen ihnen hin- und herging. In der Situation selbst hatte sie es nicht richtig begriffen, aber sie glaubte nicht, dass sie sich täuschte. Inzwischen war sie erwachsener und sich ihrer eigenen Wahrnehmung sicherer. Das Problem war nur, dass sie sich nicht sicher war, was sie für Vansen empfand, und erst recht nicht, warum sie überhaupt in dieser Weise über ihn nachdachte. Er war doch ein Gemeiner, oder nicht? Für sie beide konnte es keine gemeinsame Zukunft geben.
    Was ihre Gedanken in einem resignierten Kreis wieder auf Eneas zurücklenkte, der Besseres verdiente. Er hatte ihr klar zu verstehen gegeben, dass er sie mochte, und wäre eine ungemein vernünftige Wahl. Warum also, fragte sie sich, während sie ihn betrachtete — so hochgewachsen und gutaussehend und so selbstverständlich gewandt in allem, was mannhaft und geziemend war —, fühlte sie sich alles andere als überwältigt?
    Jede unverheiratete Frau in Tessis würde mich auslachen, wenn sie das wüsste,
dachte sie.
Und mich dann in den Staub trampeln vor Hast, zu ihm zu gelangen.

    Eneas hatte wahrhaftig nicht übertrieben, als er gesagt hatte, seine Männer seien geschult darin, sich schnell zu bewegen: Zehn Fünfzigschaften Fußsoldaten und über hundert wohlbewaffnete Reiter, mit Pferdeknechten und sonstigem Tross insgesamt fast tausend Mann, schafften es an manchen Tagen, zehn Meilen zurückzulegen. Doch nach der ganzen anstrengenden Reiterei war das Tagwerk der Tempelhunde noch längst nicht getan. Die Errichtung des Lagers war mit Dutzenden weiterer Aufgaben verbunden. Die Männer waren nach alter hierosolinischer Art in Zehnergruppen aufgeteilt, eine pro Zelt, und jede Gruppe hatte nicht nur für sich zu kochen und Wachen abzustellen, sondern auch noch ihren Teil des Verteidigungsgrabens rund um das Lager zu graben, was jeden Abend erfolgte, ganz gleich, ob sie in der Nähe eines syanesischen Dorfs, vor den Mauern einer großen Stadt oder wie jetzt in der nahezu menschenleeren Wildnis zwischen zwei Siedlungen kampierten.
    Briony verstand das nicht, aber Eneas erklärte es ihr: »Wenn ich Erbarmen habe und sie eine Nacht kampieren lasse, ohne dass sie den Graben ausgehoben haben, und es passiert nichts Schlimmes, werden sie diese Arbeit für überflüssig halten und sich davor drücken. Besser, man sorgt dafür, dass es für sie so selbstverständlich ist wie das Atmen — stimmt's, Miron?«
    »Ja, Hoheit«, sagte sein ernster Vizekommandeur. »Der Herzog von Vernon wurde bei der Brücke von Potmis unvorbereitet überrascht und verlor nahezu sein gesamtes Heer.«
    Briony war in syanesischer Militärgeschichte nicht allzu bewandert, begriff aber die Kernaussage.
    Die Männer mussten ferner ihr Brot selbst backen, Wasser holen und die Wachdienste per Los unter sich verteilen — erst wenn das alles getan war, konnten sie sich schlafen legen. Bei so langen, anstrengenden Tagen und so wenig Zerstreuung hier oben im Norden sprach es für Eneas und seine Führung, dass die Männer gesund und kräftig wirkten und die Moral im allgemeinen gut war.
    Warum bin ich nur so töricht?, dachte Briony. Warum kann ich einen Mann wie Eneas nicht lieben? Und braucht es überhaupt Liebe? Vater kannte Mutter nicht einmal, bevor die Ehe arrangiert wurde, und obwohl sie schon bei unserer Geburt starb, trauert er immer noch um sie.
    So gelangten Eneas' Truppen rasch von der syanesischen Grenze weiter nach Norden, durch den Zipfel von Silverhalden, ein ganzes Stück westlich am Handelsknotenpunkt Onsilpienstatt vorbei, und nach Südmark hinein. Es war ein Teil des Königreichs, den Briony nicht gut kannte, Eisen-, Kupfer- und Kohleland, wie ihr Vater sie gelehrt hatte, mit Minen in den Bergen und Schafweideland im Westen, wo es weit mehr Tiere gab als Menschen und die Bauern und Hirten Wolle für große Teile des Nordens erzeugten. Jetzt aber sah es hier aus, als ob ein mächtiger Sturm hindurchgefegt wäre und die Menschen davongeweht hätte: Da waren nur noch Häuser, Scheunen, Ställe und von Unkraut eroberte Felder. Die Qar selbst waren auf ihrem Marsch von der Schattengrenze herab ein paar Meilen weiter westlich durchgezogen, aber die Kunde von ihrer Anwesenheit schien das Land entvölkert zu haben wie eine Seuche.
    Das traurigste und beredteste Zeugnis des Exodus war eine Puppe aus Stroh, ein kleines Kunstwerk, das Briony am

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