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Das Herz

Das Herz

Titel: Das Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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schien fast schon eine andere Person zu sein als der Matthias Kettelsmit, der solch angsterfüllte Gedanken dachte. Der Garten im Spiegel vor ihm war wie etwas in einem Traum, fern, obwohl doch so nah. Er war sich der Worte aus Ximanders Buch nicht mehr bewusst, wenn sie auch immer weiter aus seinem Mund flossen; er hörte sie nur undeutlich, als ob hinter ihm jemand flüsterte.
    Jetzt flatterte etwas Blasses herab und landete auf dem Mandelbaumzweig, der ihm am nächsten war, etwas, das so sanft gerundet war wie ein kleines Boot, aber lebendig, mit strahlenden Augen und weichen pudrigen Federn. Eine Taube, Zorias heiliger Vogel.
    »Greif sie dir jetzt«, flüsterte Hendon Tolly. Seine Stimme hätte auch durch ein langes, windiges Tal an Kettelsmits Ohr wehen können. »Greif sie dir? Okros hat gesagt, es muss etwas geopfert werden, um den Weg zu öffnen — es muss immer etwas geopfert werden?«
    Er wollte es nicht — das Gefühl, dass der Spiegel ein Tor oder Fenster war, hatte sich noch verstärkt, auf jeden Fall war er ein Eingang zu einem Ort, an dem er, Matty Kettelsmit, nichts zu suchen hatte — aber er spürte, wie sein Arm sich hob, seine Finger sich spreizten, seine Hand sich der kalten Oberfläche des Spiegels näherte ...
    ... und hindurchlangte.
    Einen Augenblick verlor Kettelsmit jedes Gefühl dafür, wo er war — ob er von außerhalb des Spiegels hineingriff oder von innerhalb des Spiegels hinaus, vermochte er nicht mehr zu sagen. Kälte durchdrang seine Hand, so eisig, als ob er sie in einen winterlichen Gebirgsbach getaucht hätte.
    Hendon Tolly schien immer noch mit ihm zu sprechen. Falls dem so war, konnten ihn Kettelsmits Ohren nicht mehr hören, wohl aber seine Hand. Als hätte sie ein Eigenleben, langte sie nach der Taube, die das Köpfchen unter einen Flügel gesteckt hatte. Als Daumen und Finger sich um den zarten, kleinen Hals schlossen, erkannte er plötzlich, was er da tat. Er versuchte innezuhalten, aber seine Hand bewegte sich, als ob sie nicht mehr ihm gehörte. Er wollte eine Warnung hinausschreien, doch die Beschwörung ging mit seiner Stimme weiter, und sonst kam nichts aus seinem Mund. Er schloss die Augen, fühlte aber immer noch die schreckliche Zerbrechlichkeit des Taubenhalses, als er zudrückte, dann das grässliche Knacken. Während er noch vergebens gegen das anwütete, was ihn in seiner Gewalt hielt, fühlte er eine Veränderung über den Ort kommen, an dem der Mandelbaum wuchs.
    Die Taube war nicht mehr das einzige Wesen innerhalb des Spiegels.
    Doch so, wie er es nicht hatte unterlassen können, dem schönen hellen Vogel den Hals zu brechen, konnte Kettelsmit jetzt die Hand nicht aus diesem seltsamen Übergangsort zurückziehen, so sehr er sich auch bemühte. Seine Stimme leierte in einer Sprache weiter, die wieder jeden Sinn verloren hatte, aber er konnte nichts dagegen tun und konnte auch seine eigenen Knochen und Muskeln nicht dazu bringen, ihm zu gehorchen. Doch seine Hand war nicht das Einzige, was in Gefahr war; er war jetzt, wie er irgendwoher wusste, gänzlich nackt und verwundbar einem Etwas ausgeliefert, das er selbst angelockt hatte, einem Etwas, das jagend durch die Spiegelwelt glitt wie ein Frettchenhai durchs Wasser der Brennsbucht. Was auch immer es war, es hatte ihn noch nicht gefunden, war aber auf der Suche.
    Er stöhnte oder versuchte es zumindest. Das Leiern seiner Stimme hatte aufgehört. Er wollte seinen Mund zum Sprechen bringen, wollte Hendon Tolly zu Hilfe rufen, aber seine Stimme schien ohne Luft und Kraft. Er konnte Tolly nicht mal mehr sehen: Der Spiegel war zur ganzen Welt geworden — das Schwarz um den Mandelbaumzweig, die Taube mit dem abgeknickten Kopf in seiner Hand, all das war nur ein schwacher Schatten von Wirklichkeit. Dann begannen selbst diese wenigen vertrauten Dinge mit dem zunehmenden Dunkel zu verschmelzen.
    Vor Angst, sein Herz könnte zerbersten, fand Matthias Kettelsmit irgendwie eine Spur seiner Stimme wieder und krächzte: »Helft mir ...!« Er hörte keine Antwort.
    Er fühlte sich so hilflos preisgegeben, dass er jetzt vor Angst zu weinen begann.
So muss sich Okros unmittelbar vor seinem Ende gefühlt haben, beobachtet, gejagt...!
Gleichzeitig war ihm so schwindlig, als hätte ihn ein Fieber gepackt.
    Ohne Vorwarnung kroch ein Gefühl seinen Arm hinauf, von der Spiegelhand zu seinem Herzen, eine stürmische Erregung, etwas, das zu mächtig war, um es Liebe zu nennen, aber zu allumfassend, um Lust zu sein. Nur einen

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