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Das Herz

Das Herz

Titel: Das Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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Straßenrand entdeckte. Sie wirkte so verloren hier, inmitten trostloser, steiniger Schafwiesen, dass Briony absaß, um sie aufzuheben.
    Ein Holzknopfauge fehlte, und die Regenfälle vergangener Frühjahrswochen hatten die Farben ausgewaschen, doch ansonsten war die Puppe unversehrt. Sie war offensichtlich jemandes gehüteter Schatz gewesen, denn sie hatte ein geschickt genähtes langes Kleid, eine Haube und Haare aus goldenem Faden — eine höfische Edelfrau in Miniatur. Nur eine in verzweifelter Hast fliehende Familie würde eine solche Puppe einfach verlorengeben, ohne umzukehren und zu suchen, und Briony sah das kleine Mädchen vor sich, das sich abends immer noch in den Schlaf weinte.
    Während der Frühling in den Sommer überging, arbeiteten sie sich durch Südmark in Richtung der Settländerstraße vor, die sie ziemlich genau ostwärts ans Ufer der Brennsbucht führen würde. Am Ende des ersten Hexamene-Tagzehnts erreichten sie Milnersford, Schauplatz des ersten Qar-Angriffs auf eine Menschenstadt. Von der Stadt selbst war wenig übrig — die Mauern waren an vielen Stellen zerstört, scheinbar aus planloser Bosheit, so wie ein Kind, ehe es zum Abendbrot nach Hause läuft, rasch etwas kaputttritt, das ein Rivale gebaut hat. Doch die verkohlten Ruinen der Häuser, nur abgemildert durch das Gras, das aus den einst gepflegten Straßen wuchs und die schwarzen Trümmer mit einem zarten Hauch von Grün überzog, sprachen von einer Bosheit, die alles andere als planlos war. Als sie schließlich die Ruinen von Milnersford hinter sich ließen, zitterte Briony wie von eisiger Winterkälte. Die syanesischen Soldaten, für die die Qar bis dahin etwas recht Abstraktes gewesen waren, hatten jetzt angstgeweitete Augen und beunruhigte Mienen, und selbst Eneas konnte sein Unbehagen nicht ganz überspielen.
    »Diese Zwielichtler sind Ungeheuer«, sagte er, als sie am Abend ihr Lager errichteten, weit genug von der schwarzen, toten Stadt entfernt, um nichts mehr davon zu sehen.
    »Schlimmer als Ungeheuer sogar, aber nur weil sie so intelligent sind wie wir — wenn nicht intelligenter.« Sie dachte an die Geschichte des Kaufmanns Raemon Beck: wie die Kreaturen regelrecht aus dem Nichts aufgetaucht waren. »Unterschätzt sie nicht, Eneas. Sie sind keine wilden Tiere.«
    Die nächsten zwei Tage zogen sie ostwärts durch Dalerstroy. Einmal schlugen sie abends schon früh ihr Lager in einem Flusstal auf, um den Soldaten Gelegenheit zu geben, ein Bad zu nehmen, aber auch deshalb, weil der enge Durchlass von diesem Tal ins nächste Eneas suspekt war: Er schien ein sehr geeigneter Ort für einen Hinterhalt, weil sie dort jedem, der mit Pfeilen oder auch nur Steinen auf den Felsen oberhalb der Straße lauerte, so gut wie wehrlos ausgeliefert wären.
    Als der erste Spähtrupp zurückkehrte, war die Erregung der Reiter schon von fern an dem eiligen Galopp zu erkennen, und die Zehntschaftsführer der Tempelhunde — ebenfalls nach alter hierosolinischer Sitte »Pentenäre« genannt — hatten alle Hände voll zu tun, die Männer, die das Lager errichteten, konzentriert bei der Arbeit zu halten.
    »Kämpfe, Herr«, meldete Miron, nachdem ihm die Späher Bericht erstattet hatten. »Am anderen Ende des nächsten Tals liegt ein Hügelstädtchen mit ordentlichen Mauern, doch von denen ist nicht mehr viel übrig. Sieht aus, als ob die Zwielichtler sie niedergerissen hätten. Aber wenn dem so ist, sind sie immer noch dort und kämpfen mit Stadtbewohnern direkt auf der Talstraße!«
    »Klerborn«, sagte Briony mit pochendem Herzen. Sie hatte sich bereit geglaubt, den Qar entgegenzutreten, aber jetzt war sie sich nicht mehr so sicher. »So heißt die Stadt. Die Leute aus diesem ganzen Teil Südmarks kommen zum Festtagsmarkt dorthin. Ich meine, sie kamen immer hin ...«
    »Wie viel Mann auf jeder Seite?«, fragte Eneas.
    Miron dachte angestrengt nach. »Anscheinend ist keine Seite so stark wie wir, Hoheit, aber das ist schwer zu sagen — als die Späher weit genug ins Tal vorgedrungen waren, um die Stadt erkennen zu können, wurde es schon dämmrig, und sie wollten es nicht riskieren, noch weiter zu reiten und womöglich von den Zwielichtlern entdeckt zu werden. Ihr habt doch selbst gesagt, die können weit sehen.«
    »Gut. Heute Nacht können wir nichts mehr tun. Weist die Wachtposten an, leise zu sein, und in der Wache vor Morgengrauen rücken wir aus — das gibt uns die Chance, schon dort zu sein, ehe die Sonne hinter den Hügeln

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