Das Herz
wärst dann natürlich nutzlos für mich; wenn du also noch ein Weilchen weiterleben willst, rate ich dir, mir gute Dienste zu erweisen.« Hendon Tolly reichte ihm ein ledergebundenes Buch. Kettelsmit betrachtete es angsterfüllt. »Schlag es schon auf, Hasenfuß«, knurrte Tolly. »Das ist Rindsleder, kein Menschenfleisch. Es ist das Buch des Ximander — davon musst doch selbst du schon gehört haben. Schlag es auf!«
Widerstrebend gehorchte Kettelsmit. Er hatte seit Jahren kein Althierosolinisch mehr gelesen, aber sein Vater, der Lehrer, hatte dafür gesorgt, dass Jung-Matthias die bedeutenden alten Bücher zu studieren vermochte. Wäre er nicht so verängstigt gewesen, hätte es eine interessante Erfahrung sein können — er hatte von Ximanders berühmtem Buch mit den seltsamen Prophezeiungen und Geschichten gehört, es aber nie gesehen. Der volle Titel lautete offenbar:
Mannigfaltige Wahrheyten, aus der Feder des Ximandros Tetramakos.
»Hier«, sagte Tolly. »Ich zeige dir die Seite. Du wirst lesen und nur lesen, bis ich dir etwas anderes gebiete.«
»Laut vorlesen?«
»Natürlich, Dummkopf. Du liest nicht zum Vergnügen, du beschwörst eine Göttin.«
»Eine Göttin ...?« Kettelsmit schluckte. Meinte Tolly das ernst? Glaubte er wirklich, dass er mit den Göttern sprechen könnte, als wäre er einer der Oniri, der heiligen Orakel, die die Worte der Götter in eine wartende Welt hineintrugen? Aber die Orakel waren erwählte Menschen, von den Göttern geliebt, Männer und Frauen von solcher Reinheit und Frömmigkeit, dass sie mit dem Willen des Himmels selbst in Verbindung treten konnten. Hendon Tolly aber war ein Mörder, Frauenschänder und Usurpator.
Das alles sagte Kettelsmit natürlich nicht.
»Das hier vorlesen, Herr?« Zu seiner Bestürzung war es nichts so Geläufiges wie Althierosolinisch, sondern eine seltsame, unverständliche Sprache, die er noch nie gesehen hatte. »Ich kenne diese Wörter nicht ...«
»Hör auf zu flennen und fang an«, sagte Tolly. »Versuch daraus zu machen, was du kannst. Du betörst hier keine hohlköpfigen Weiber, du sprichst Worte der Macht.«
Kettelsmit räusperte sich. Er fühlte, wie die Steinmauern dräuend auf ihn herabblickten und wie ihn vielleicht sogar die Seelen der toten Eddons mit Missfallen beobachteten, aber es blieb ihm nichts anderes übrig, als Hendon Tollys Unsinn vorzulesen.
»Vea shen goarubilir sheyyer gelameian o goh en duyak paraasala in ichinde ionet gizhli, vea
SYA yeldi goh buk vea shen goarmelimii vea bagh!
O buk iscah bir goabegi ...«
Während Kettelsmit las, geschah etwas Merkwürdiges. Ximanders Beschwörungsworte in dieser ungelenken, uralten Wüstensprache klangen immer vertrauter, wie eine Melodie aus der Kindheit, bis Kettelsmit zu verstehen begann, was sie bedeuteten, so als hätte sich die Sprache des Buches beim Lesen irgendwie in seine eigene verwandelt.
»... Und Du gebotest, dass Sichtbares käme aus dem Unsichtbaren in den niedersten Teilen, und
SYA kam in alles, was war, und Du erblicktest es sämtlich! Aus ihrem Bauch erstrahlte ein großer Glanz ...«
Das Licht wurde plötzlich schwächer, als ob jemand die Fackel aus dem Halter genommen hätte und damit wegginge. Kettelsmit spürte, wie er vornüber fiel, nicht in den Spiegel, der immer noch vor ihm stand wie ein Fensterrahmen, aber er fiel dennoch, wenn auch nicht physisch: Sein Denken wurde in die Reflexion seines eigenen Gesichtes auf der dunklen Spiegeloberfläche hineingezogen.
Doch das Spiegelbild veränderte sich. Furcht presste ihm das Herz zusammen. Irgendwie waren die Mauern der Gruft praktisch verschwunden, wenn er sie auch immer noch undeutlich sah. Der Boden war gänzlich fort, ersetzt durch einen grünen Grasteppich, aus dem ein knorriger, aber schlanker grauer Baumstamm wuchs. Es war ein Mandelbaum, geziert von weißen Blüten, die aussahen wie kleine Sterne.
Beim Himmel, es ist Zoria,
wurde ihm klar.
Wir beschwören Zoria!
Nur seiner Angst wegen hatte er das nicht schon längst begriffen.
Die Mandelblüte ist ihr Zeichen, die erste Blüte des Frühlings — der Morgenröte des Jahres.
Aber warum? Welch irrsinniges Sakrileg plante Tolly? Er hatte irgendetwas von einer Hochzeit mit einer Göttin gesagt, aber selbst ein Wahnsinniger wie er glaubte doch wohl nicht, er könnte Perins jungfräulicher Tochter den Hof machen und sie sogar heiraten! Blasphemie!
Doch alle diese Gedanken änderten nichts. Der Matthias Kettelsmit, der die Beschwörung vorlas,
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