Das Hexenkreuz
steiler
Pfad, dem Felsen mühselig abgetrotzt und eben breit genug für einen
Ochsenkarren, wand sich zur Burg hinauf und zeichnete den Hang kreuz und quer
wie eine Narbe.
An klaren
Tagen hatte man von der Burg eine herrliche Fernsicht über die phantastische
Gebirgslandschaft der Abruzzen. Dann lockte am Horizont gar das Mittelmeer in
einem irisierenden Streifen aus Silber und Azur.
Der erste
Graf di Stefano hatte die Burganlage auf den Überresten eines römischen
Kastells erbaut, nachdem die Sarazenen im 9. Jahrhundert mehrfach in Italien eingefallen
waren. Mit den Jahrhunderten verlor die Burg an Bedeutung, die Nachfahren des
Geschlechts verließen den Ort und sie geriet in Vergessenheit. Scharen von
Tauben und Fledermäusen zogen in sie ein und stritten sich unter dem hölzernen
Dachgebälk um die besten Nistplätze.
Die Burg selbst
war oft belagert, aber nie erobert worden. Kein Feind hatte je den Fuß in sie
gesetzt. Nur einem Feind hatte sie sich schließlich doch beugen müssen - dem geduldigsten
von allen: der Zeit. Die Spuren des Verfalls waren überall sichtbar.
Ungehindert kletterte der Efeu die grauen Steinquader des Bergfrieds empor und schickte
sich von dort an, die restliche Burg zu erobern. Wohl verlieh es der Anlage
einen wildromantischen Anschein, doch der grüne Klammergriff saugte sich in
jeder Ritze fest, fraß sich durch die Mauern und fügte ihr weitere Wunden zu.
An diesem
Mittag döste die Anlage in der ersten Maisonne scheinbar verlassen vor sich
hin. Die Luft war erfüllt vom Summen der Insekten, die die Sonne aus ihrem
Winterquartier hervorgelockt hatte. Lediglich eine Gruppe Gänse querte den
Platz, zog gravitätisch über die baufällige Zugbrücke und verschwand im
Schatten des Torbogens. Der fette Kater, der zusammengerollt in einem
Sonnenfleck auf dem Hof lag, nahm keinerlei Notiz von ihnen. Nichts rührte sich
…
Jäh aber
wird das friedliche Idyll gestört: Ein Pferd, über dessen Hals sich eine
Gestalt so tief duckt, dass sie mit diesem fast verschmilzt, sprengt im vollen
Galopp den Pfad herauf. Der Reiter entpuppt sich beim Näherkommen als Reiterin:
Eine junge Amazone mit wehendem schwarzem Haar. Beinahe noch im Galopp springt sie
vom Pferd und fegt mit geschürzten Röcken über den Hof, Staub und empörtes
Federvieh gleichermaßen aufwirbelnd.
Ungestüm
nimmt das junge Mädchen jeweils zwei Stufen der baufälligen Treppe auf einmal
und stößt das Portal zum Rittersaal auf. Fast hätte sie dabei ihre Tante
Colomba ins Reich der Träume befördert. Ein hastiger Sprung zur Seite rettete
diese gerade noch vor dem Zusammenstoß. „Aber Kind …“, entrüstete sie sich und
schickte sich zu ihrem üblichen Vortrag über das gebührliche Benehmen junger
Damen an. Emilia schenkte ihr keine Beachtung. Sie hatte den Gesuchten
entdeckt. Wie so häufig traf sie ihren Vater in den Armen Morpheus an. Sein
Kopf, dessen dichter Haarschopf ihm das Aussehen eines angegrauten Löwen
verlieh, ruhte mit der Wange auf der Tischplatte, während seine Linke noch den
leeren Humpen Wein umklammerte.
Das Herzstück
der Burg bot einen trübseligen Anblick. Verschlissene Wandteppiche hingen zwischen
altmodischen Lanzen, Streitäxten und Schildern mit verblassten Wappen. Der
Holztisch, wenige grob gezimmerte Bänke und eine zerschrammte Kredenz verloren
sich geradezu in der riesigen Halle, während zwei verbeulte Rüstungen den
steinernen Kamin bewachten. Einst geschaffen, um ganze Ochsen am Spieß darin zu
braten, klaffte sein Schlund nun schwarz und kalt. Drei magere Jagdhunde
balgten sich davor um einen Knochen.
Ohne
innezuhalten, stürmte Emilia auf ihren Vater zu und rüttelte ihn an der Schulter.
Die grobe Behandlung riss den Conte unsanft aus den weinseligen Träumen.
„Was …? Wie …?
Der Feind?“, stammelte er und fuhr blinzelnd auf. Dabei stieß er den Zinnhumpen
vom Tisch, er rollte über die Tischkante und landete scheppernd auf den zersprungenen
Fliesen. Die Hunde ließen sofort vom Knochen ab und balgten sich nun um das
kleine Rinnsal aus dem Becher. Vater und Tochter kümmerten sich nicht um ihr
Gezeter.
„Ist es
wahr, Vater? Ihr habt mich meistbietend verkauft?“, überfiel ihn die Tochter
sogleich.
Der Conte di
Stefano zog unwillkürlich den Kopf ein. Schwerfällig stemmte er sich hoch und
erwies sich dabei kaum größer als im Sitzen. Seine kurzen Beine steckten in
zerknitterten Strümpfen, die in Schnallenschuhen endeten. An den Absätzen
klebte
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