Das Hohe Haus
Stein für Stein vom Herzen: Gleich zweimal gelobt worden von Niels Annen, eine Ranschmeiße deluxe nach vier Jahren Krieg der Welten und Weltanschauungen, und dazu ein paar Grüne, die auch noch mitklatschen. Wer hätte sagen können, dass Große Koalition so gut schmecken würde?
Aber was bedeutet die neue Situation für das Parlament, dessen elementare Funktionen sich ja zunächst einmal nicht mit den Interessen von Parteien decken? Wie dieses Parlament die Regierung kontrollieren soll, kann man sich kaum vorstellen. Wie die Opposition sich behaupten soll, die ja selbst in sich zerstritten ist, ebenso wenig. Lauter aussichtslose Unterfangen. Man nehme hinzu, dass auch wirtschaftliche Prozesse, Bündnispartner, Bundesländer, das Europaparlament und das Bundesverfassungsgericht Entscheidungen fällen – und schon schrumpft das Parlament zu was?
Katrin Göring-Eckardt (B 90 / DIE GRÜNEN ) beginnt ihre Rede mit Miniaturen aus dem Elend ukrainischer Demonstranten und erhält dafür bisweilen auch den Applaus der SPD . Anschließend klagt sie in flammenden Worten eine »Vision« ein. Aber wer im Wahlkampf mit »Veggie Day«, »Spinat mit Ei« und dem frei flatternden Zitronenfalter auf sich aufmerksam machte, dem wird im Visionären zumindest keine Kernkompetenz zugeschrieben.
Als sie auch Lampedusa erwähnt, lacht Merkel gerade herzlich mit Gabriel, streicht sich eine Strähne hinter das Ohr und demonstriert große Ferne von dem Elend, das sich da täglich an Europas Grenzen sammelt. Göring-Eckardt dagegen beerbt wieder einen Gestus der Inständigkeit, der so isoliert erscheint, wie es diese Fraktion als Ganzes ist, und ein wenig folkloristisch. Inzwischen hat Merkel ihre Vertraulichkeiten mit Gabriel hinter sich und schaut auf einen Indifferenzpunkt im weiteren Horizont des Saals. Sie ist jetzt geistesabwesend, das aber mit Selbstbewusstsein.
Was sie verpasst? Katrin Göring-Eckardt hatte ihre Rede begonnen mit den Worten: »Seit Wochen demonstrieren Tausende und Abertausende auf dem Maidan in Kiew. Sie harren aus in Kälte und ertragen die Gegenwehr der Staatsmacht. (…) Genau darum geht es ihnen: ein Signal für dieses gemeinsame Europa der Werte zu setzen.« Ihr Nachfolgeredner Andreas Schockenhoff ( CDU / CSU ) setzt ein mit den Worten: »Seit vielen Tagen schon demonstrieren die Menschen in der Ukraine für die europäische Orientierung ihres Landes. In Eiseskälte treten sie für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte ein. (…) Sie wollen die schrittweise Annäherung an die Europäische Union.« Die schwarz-grüne Koalition der Demonstrationsfreunde macht auch deutlich, wofür die frierenden Demonstranten von Kiew parteiübergreifend herhalten müssen: für die europäische Wertegemeinschaft, die deutsche Außenpolitik, die Kritik an Russland etc.
Nach gut einer Stunde ist die Regierungsbank schon von den meisten Ministern befreit, auch die Kanzlerin hat auf dem Platz neben ihrem Wasserglas nur ein Stillleben aus Requisiten zurückgelassen. Manuel Sarrazin von den Grünen verzehrt fünf Minuten Redezeit, von insgesamt sechzehn, die seiner Fraktion zustehen. Anschließend sprechen hintereinander sieben Abgeordnete der Regierungsparteien insgesamt 62 Minuten lang, scheuen keine Wiederholung, kein Aufwärmen vorgekochter Positionen, gewürzt mit Schmeichelei, Selbstdarstellung und den neuen Einigkeitspheromonen.
Nein, an ihrem ersten Parlamentstag hat die Große Koalition nicht einmal den Versuch gemacht, besonders oppositionsfreundlich aufzutreten. Entsprechend lausig die Aufmerksamkeit. Viele Abgeordnete sind gegangen, andere folgen dem, was in der Schule »stille Beschäftigung« hieß, die meisten verstehen diese hier wie dort als »lärmende Beschäftigung«. Man begräbt mit diesem Tag die Hoffnung auf lebendige »Debattenkultur«. Die Diskussionsfreude, die erbitterten Wechselreden, die Duelle auf der Planche wird es auf absehbare Zeit nicht mehr geben. Vorauszusehen ist, dass das Parlament unter diesen Bedingungen künftig weniger Aufmerksamkeit auf sich ziehen und bald darüber klagen wird.
Auch die Menschen auf den Tribünen, so scheint es, haben das Interesse inzwischen verloren. Sie wenden sich dem Plenum eher mit ästhetischen Kategorien zu, auf der Suche nach Unterscheidbarkeit: hier ein Kostüm, eine Farbe, eine Geste, eine Situation, die Ballung einer Gruppe und ihr Zerfließen. Dann die Unverständlichkeiten in Abläufen, Referenzen, Gedanken, Informationen und im
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