Das Hohe Haus
»Stabilität und Wachstum«, »Wachstum und Beschäftigung«, »mehr Stabilität und Wachstum« bis hin zu einem »Europa der Stabilität, des Wachstums und natürlich der sozialen Sicherheit«.
Eine typische Wendung der Merkel-Rhetorik klingt so: »Wir haben auch eine neue Strukturfondsförderung beschlossen. Sie erhält mit der makroökonomischen Konditionalität eine neue Dimension.« Das, so fällt auch der Kanzlerin auf, »hört sich sehr technisch an«, und deshalb übersetzt sie es noch einmal in die spritzige Diktion der volkstümlichen Erklärung, indem sie fortfährt: »… das heißt aber nichts anderes, als dass es Auswirkungen auf die Vergabe von Strukturfondsmitteln haben kann, wenn Länder die Empfehlungen zur Entwicklung der Wettbewerbsfähigkeit, die seitens der Europäischen Union, der Kommission selbst, gegeben werden, nicht einhalten.« Die Politik kennt diese Bewegung des Abwendens vom Volk, seinem Verstehen, seiner Sprache, seinem Vorwissen, ja, seinem Anspruch auf Einbeziehung. Da war sie wieder, pünktlich zurück, von Anfang an.
Und diese Sprödigkeit angesichts der Erwartungen des Publikums hat auch etwas Persönliches, denn Merkel ist der ganze Quatsch rund um die Politik, das Psychologische, Private wohl eher unangenehm. Sie fühlt sich am wohlsten mitten im Sachzwang, in den Fakten, den Vorlagen zur Entscheidungsbildung. Unter den neuen Mehrheitsverhältnissen kann sie jetzt auch leichter sagen, dass man sich für die EU viel vorgenommen, vieles nicht erreicht habe. Sie kann der rhetorischen Frage, die mit »wie will man …« beginnt, etwas aufrichtig Dringliches verleihen, das mit dem »nie wieder« zur Bankenkrise verbunden wird. Und es vereinfacht das Leben der Kanzlerin, dass sie es rhetorisch nicht mehr mit der alten Opposition zu tun hat. Dieser fehlende Dissens gibt dem Parlament andererseits etwas Versachlichtes, Darstellendes, Protokollarisches. Was soll die Opposition anderes besetzen als die Position des Kläffers? Ja, sie ist wie ein Spitz, der unter dem Sofa vorkommt, beißt und gleich wieder wegwischt.
Inzwischen gelangt die Kanzlerin von Mali zu Serbien zu Albanien, streift auch die Ukraine mit einem Satz. Das Plenum füllt sich immer noch. Der Applaus kommt dickflüssig, bewegt sich langsam durch die Reihen, schwillt an und verebbt. Die Masse gibt ihm Phlegma.
Das neue Kabinett ist jetzt vollständig. Man blickt in die Gesichter derer, die es endlich auf den Ministersessel geschafft haben und heute zum ersten Mal aus dieser Perspektive in den Saal schauen. Man blickt auch auf die neuen Parlamentarier, die die Abläufe gerade nachvollziehen: die ganzen rhetorischen Funktionen und »Verhandlungssysteme«, die zusammengefasst »Parlamentskultur«, »politische Kultur«, »Streitkultur«, »Diskurskultur« heißen und zugleich auf eigene Weise zur »Handlungsschwäche der Politik« beitragen.
Das Parlament wandelt sich. Tendenziell gibt es den Verhandlungen inzwischen mehr Raum als den Handlungsanweisungen. Zugleich haben sich die Typen der politischen Rede immer weiter aufgefächert: Da gibt es die Sprache der Pressekonferenz, der Talkshow, des Parteitags, des Wahlkampfes, des Parlaments und alle ihre Schnittmengen. Immerhin ist der Politiker, der mit seiner Rede ein Fanal setzen will, noch unterscheidbar von dem, der bloß nicht schlechter sprechen möchte als andere.
Sahra Wagenknecht ( DIE LINKE ) geht nie ans Pult, ohne Grundsätzliches vorzutragen. Ihre Einwände aber treffen nicht das System des real existierenden Kapitalismus allein, sie treffen auch die Realität des demokratischen Alltags. So zitiert sie das Wahlprogramm der SPD zum Kampf gegen die »Geiselhaft der Banken und Spekulanten« und erinnert: »Herr Steinbrück ist mit dieser Botschaft über die Marktplätze gezogen.« Ein Leichtes, den »Koalitionsvertrag der gebrochenen Versprechen« dagegenzusetzen und die Lebenslügen der Sozialdemokratie Punkt für Punkt zu benennen. Zu dieser Rede trägt die Große Koalition, obwohl es noch früh am Tag ist, Unaufmerksamkeit zur Schau. Auf der Regierungsbank hört im Moment nur Andrea Nahles zu, und der Zwischenapplaus für Wagenknecht kommt einzig aus der eigenen Partei.
Die Ausführungen aber beweisen noch ein anderes Dilemma der neuen, marginalisierten Opposition: Weil ihre Redezeiten so knapp bemessen sind, fehlt nicht allein der Raum zu Erklärung und Vertiefung, auch die Rhetorik muss effektvoller, wenn nicht drastischer werden, um mögliche
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